Spiegel und Vergessen
Das Wort Gottes als Spiegel
Sören Kierkegaard1 (1813-1855) ist einer der Autoren, die immer wieder etwas in mir zum Klingen bringen. In seiner Schrift “Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen”2 setzt er sich kritisch mit unserem Umgang mit der Bibel auseinander. Sein Ausgangspunkt ist Jakobus 1, 23-24:
Wer nur Hörer des Wortes ist und nicht danach handelt, gleicht einem Menschen, der sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet: Er betrachtet sich, geht weg und schon hat er vergessen, wie er aussah. (Jak. 1, 22-23; EÜ)
Ich muss gestehen: ich bin immer wieder mal über diese Stelle gestolpert, ohne mich aber jemals genauer mit ihr auseinandergesetzt zu haben. Okay: seit Luther hat Jakobus in weiten Teilen der Christenheit keinen guten Stand. Luther war überzeugt, dass der Brief nicht von dem Jakobus geschrieben war, der zu den ersten Nachfolgern Jesu gehört hatte. Er bemängelte vor allem, dass seine Lehre nicht dem Evangelium entspreche. Der Brief war Luther viel zu gesetzlich.3 Und so spielt der Jakobusbrief in vielen Gemeinden heute bei weitem nicht die Rolle wie zum Beispiel die Briefe des Paulus. Ich glaube, auch ich habe nur ein einziges Mal über ihn gepredigt.
Wenn der Spiegel wichtiger ist als das Spiegelbild
Jakobus vergleicht das Wort Gottes mit einem Spiegel; der Leser wäre dann jemand, der sich idealerweise in diesem Spiegel betrachtet. Aber Kierkegaard zweifelt offenbar daran, dass wir gerne so mit der Bibel umgehen:
Was [ist] erforderlich […], um sich mit wahrem Segen im Spiegel des Wortes zu betrachten? […] Daß Du nicht den Spiegel ansiehst, den Spiegel betrachtest, sondern Dich selbst im Spiegel siehst. (Kierkegaard)
Ich stelle mir einen Spiegel vor, groß, wunderbar geschliffen, mit einem goldverzierten und mit edlen Steinen besetzten Rand. Vielleicht im Prunkraum eines Schlosses. Wenn ich ihn betrachte, staune ich über die Kunstfertigkeit der Meister, die ihn geschaffen haben. Beim genauen Hinschauen erkenne ich feinste Spuren der Werkzeuge, die für das Vergolden verwandt wurden. Ich denke an den unglaublichen Wert dieses Meisterwerks, die Menschen, die ihn geschaffen haben, an die Geschichte, die den Spiegel in dieses Schloss geführt hat.
Vielleicht beschäftige ich mich auf diese Weise minutenlang mit ihm - aber am Ende habe ich mich selbst nicht ein einziges Mal in ihm wahrgenommen.
Das ist also das Erste: wenn das Wort Gottes zu einem Wort werden soll, das mich persönlich anspricht, in dem ich mich erkennen kann, dann reicht es nicht aus, dass ich den Spiegel sehe und bewundere.
Dieses scheint so einleuchtend, daß man glauben sollte, es brauchte kaum gesagt zu werden. [… Jakobus] warnt gegen das Versehen, daß man den Spiegel betrachte, statt sich selbst im Spiegel zu sehen. (Kierkegaard)
Wenn ich ehrlich bin: beim Umgang mit der Bibel ist es wirklich nicht schwer, der Auseinandersetzung mit mir selbst auszuweichen. Es gibt so viele “sinnvolle” Fragen, die ich an den Text stellen kann. Diese waren zu Kierkegaards Zeit nicht anders als heute:
[…] wie viel gehört im strengeren Sinne zum »Worte Gottes«, welche Bücher sind echt, sind sie auch von den Aposteln, und sind diese auch glaubwürdig, haben sie alles selbst gesehen, oder vielleicht Verschiedenes doch nur von anderen gehört? und nun die Lesarten, 30,000 verschiedene Lesarten! und dann dieser Zusammenlauf und dies Gedränge von Gelehrten und von Meinungen, von gelehrten und ungelehrten Meinungen darüber, wie die einzelne Stelle zu verstehen sei […] (Kierkegaard)
Kurz:
[…] die Geschichte mit dem Spiegel verwirrt sich so, daß ich wohl nie dazu komme, mich zu spiegeln – wenigstens nicht, wenn ich den Weg einschlage. (Kierkegaard)
Zwei Arten die Bibel zu lesen
Es ist wichtig zu verstehen, dass Kierkegaard nicht die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Bibeltext ablehnt. Er war selbst Theologe. Aber für ihn gab es offenbar zwei Arten zu lesen.
- Ich kann die Bibel lesen als ein ehrwürdiges, altes Buch, von Gott inspiriert, ein Geschenk an die Menschheit. Je nach Engagement kann ich der Herkunft und Verbindung der unterschiedlichen Bücher nachgehen, wenn möglich die Feinheiten der hebräischen und griechischen Sprache für meine Auslegung mitberücksichtigen. Und wenn das nicht ausreicht: für jeden Vers gibt es Kommentare im Überfluss.
- Ich kann in der Bibel aber auch das Wort Gottes suchen, den Anspruch, den sie an mich stellt, die Ermutigung, die in meine aktuelle Situation hineinspricht - und mich und meine Realität mit dem messen, was ich beim genauen Hinhören wahrnehme.
Beide Herangehensweisen sind okay und haben ihren Platz. Aber der Text von Kierkegaard ermutigt mich zu fragen:
- Wo spricht mich die Bibelstelle persönlich an?
- Kann ich meine Haltungen, Vorurteile, meine Schwächen, aber auch meine Stärken in den handelnden Personen wiederfinden?
- Welche Ermutigung oder Richtungskorrektur zeigt mir diese Passage?
- Was lerne ich aus ihr, das ich heute direkt umsetzen kann?
Für mich wird das in der nächsten Zeit ein Übungsprozess sein, auf den ich mich einlasse. In der [lectio divina] ist die Möglichkeit, mich von dem Text berühren zu lassen, ja schon angelegt. Aber selbst da wünsche ich mir mehr Disziplin, die umwandelnde Kraft dessen bewusst zuzulassen, wo Gott mir persönlich etwas sagen will.
Wie geht es dir dabei? Kennst du das auch: in der Bibel zu lesen, ohne dass es dein Leben berührt? Vielleicht können wir in diesem Prozess ja ein Stück zusammen gehen. Wenn du Fragen hast oder über deine Erfahrungen sprechen magst, schreib einfach in die Kommentare, oder mir persönlich eine Mail.
Titelbild: John Charles Robinson (1824-1913) - Small Mirror Frame, in Carved and Gilded Wood. Venetian (1858); on [artvee.com]. Image is in the public domain.
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dänischer Philosoph, Theologe und Schriftsteller. Einen guten Überblick über sein Werk bietet die [Wikipedia] ↩
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1851; online verfügbar bei [Projekt Gutenberg]; abgerufen 2021-05-30. Der Text ist im Faksimile auch im [Internet Archive] zu lesen; abgerufen 2021-05-18. ↩
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siehe Luthers “Vorrede auf die Episteln S. Jacobi und Judae”, in: Bornkamm, Heinrich. Luthers Vorreden zur Bibel. 3. Aufl. Kleine Vandenhoeck Reihe 1550. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1989. S. 215-218 ↩