Peter Lincoln über die lectio divina
Peter Lincoln über die lectio divina
Bei der lectio divina, das dürfte in den vorigen Artikeln deutlich geworden sein, geht es sehr viel um innere Vorgänge. Und diese sind nicht sehr leicht zu beschreiben. Da hilft es mir oft zu lesen, welche Worte andere für sie finden.
Gestern habe ich im [Focusing Journal] einen Artikel1 von [Peter Lincoln] gefunden, in dem er kurz und knapp den Weg der lectio divina zusammenfasst. Peter ist Doktor der Germanistik, Pastor i.R. im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und Focusing-Ausbilder (DAF). In dieser Funktion war er 2012 auch mein Focusing-Lehrer.
Zunächst geht Peter die vier Schritte der lectio divina durch: die Lesung (lectio), die Meditation (meditatio), das Gebet (oratio) und die Kontemplation (contemplatio). Ich zitiere aus dem Artikel “Focusing in der Tradition der christlichen Spiritualität”, zusammen mit meinen Anmerkungen:
Bei lectio liest man einen kurzen biblischen Text langsam und aufmerksam vor.
Ob du dabei laut oder leise liest, ist zweitrangig. Aber es ist hilfreich, wenn du die Worte des Textes zumindest innerlich mitsprichst.
Meditatio beinhaltet das Wiederholen der Worte so lange, bis der Inhalt mit einer tieferen Ebene in Berührung kommt. Dazu schreibt Marjorie Thompson (Christliche Spiritualität entdecken, S.44): “Bei dieser Art von ‘Meditation’… wird das ‘Herz’ im biblischen Sinne aktiviert, in dem Erinnerung, Erfahrung, Gedanken, Gefühle, Hoffnungen, Sehnsüchte, Intuitionen und Absichten zusammenwirken.”
Die Meditation ist also nicht ein bloßes Wiederholen der Worte. Ihr Ziel ist es auch nicht, sich möglichst kluge Gedanken zu dem Text zu machen, oder ihn mit theologischen oder psychologischen usw. Konzepten zu vergleichen. Es geht darum, dass du dich von dem Text berühren lässt. Die Aufgabe deines Verstandes ist in diesem Schritt, diese Berührung zu ermöglichen - und dann zurückzutreten.
In der dritten Phase, oratio, lässt man die Aktivitäten des Verstandes beiseite, damit das Herz mit Gott in einen Dialog treten kann.
All das kann eine organische Bewegung sein. Drücke Gott gegenüber das aus, was während dieser Zeit in deinem Herzen entstanden ist. Aber Dialog ist nicht Selbstgespräch. Nimm dir den Raum, auch immer wieder schweigend zu lauschen auf Impulse, die von Gott kommen. Dann kann das Gebet zu einen Zwiegespräch werden.
Beim letzten Schritt, contemplotio, lässt man nicht nur die Gedanken, sondern auch die Worte los, um auf der Grundlage des gelesenen Wortes in der Gegenwart Gottes zu ruhen. Das Wort contemplare kann auch mit dem deutschen Wort schauen übersetzt werden. Wenn wir das Wort aufteilen (con = mit und templum = markierter Raum) könnten wir sagen, dass der kontemplierende Mensch in der Gemeinschaft mit Gott im Tempel des Körpers verweilt und dass beide sich gegenseitig anschauen.
Hier bist du angekommen in dem Inneren Raum in dir, in dem Gott wohnt. Hier darfst du ganz zur Ruhe kommen. Hier braucht es keine Worte mehr. Es genügt, bei dem Geliebten zu sein.
Zum Abschluss beschreibt Peter Lincoln in einem Satz noch einmal den Weg der lectio divina:
Mit der “lectio divina” beginnt man also auf der Verstandesebene, führt das gelesene Wort zur Ebene des Herzens hin, bis man zu einem noch tieferen Platz im Inneren gelangt.
Mich hat diese Beschreibung sehr bewegt: das Bild, mit Hilfe der lectio divina in mein Innerstes hinabzusteigen, in meine tiefste Tiefe - um dem Höchsten zu begegnen.
Vielleicht hilft sie ja auch dir.
Titelbild: unter Verwendung eines Fotos von [Priscilla Du Preez (Unsplash)]
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Peter Lincoln: Focusing in der Tradition der christlichen Spiritualität. Focusing Journal Nr. 18, Juni 2007 (S. 20-23) ↩