lectio divina: 2 - Lesung
Lesung (lectio)
Bei der Lesung geht es zunächst einmal ganz einfach darum, den Text zu lesen. Der ganze Erfolg dieses Weges hängt von diesem ersten Schritt ab.
Zu Beginn möchte ich nochmal betonen: der Weg, den ich dir hier zeige, ist der, den ich für mich im Laufe der Zeit als den besten entdeckt habe. Aber die lectio divina will ja kein starres Korsett sein, und ich will dir auch keines vorgeben. So möchte ich dich ermutigen: probier das aus, was ich dir erkläre, und behalte das Gute. Aber habe auch die Freiheit, alles so anzupassen, dass es zu deiner Persönlichkeit passt.
Wie viel lesen?
Ich habe Empfehlungen gelesen, nicht mehr als ein oder zwei Kapitel aus der Bibel auf einmal zu lesen, um die in dem Text verborgenen Schätze wirklich heben zu können. Das kann sinnvoll sein, um sich einen Überblick über ein Thema oder ein Buch zu verschaffen. Aber im Rahmen einer lectio divina ist das viel zu viel.
Für mich reichen in der Regel ganz wenige Verse aus; manchmal ist es sogar nur ein einziger Vers. Und es kommt sogar vor, daß es nur einige wenige Worte eines Verses sind. Das heißt zum Beispiel, daß ich längere Geschichten in ganz kleine Abschnitte unterteile, und mir jeden Tag dann nur einen einzigen Abschnitt vornehme. Mit einem längeren Text ist die ruminatio1, das “Wiederkäuen” eines Textes, kaum möglich.
Es kommt auch vor, daß ein bestimmter Vers mich über mehrere Tage beschäftigt. Und dennoch spricht Gott durch dieses Wort immer wieder neue Dinge zu mir.
Als ich diesen Weg der lectio divina begann, entschied ich mich, das Markus-Evangelium zu lesen. Ich habe einfach vorne angefangen, und auf die Art, die ich hier beschreibe, monatelang in diesem Evangelium gelesen. Und ich bin dabei jeden Tag nur einen oder einige wenige Verse weitergekommen. Ich verbrachte so mit Hilfe der lectio divina 16 Monate mit diesem Evangelium, jeden einzelnen Tag, mit wenigen Ausnahmen.
Hab keine Angst, dass du damit zu langsam “durch die Bibel durchkommst”. Es hindert dich nichts daran, neben dieser Form der lectio divina zum Beispiel einem normalen Bibelleseplan zu folgen oder dich mit einzelnen Themen zu beschäftigen. Aber ich wünsche dir, dass du dieselbe Erfahrung machst wie ich: wie nahe du Jesus mit der lectio divina kommen kannst.
Was lesen?
Im Prinzip kannst du jeden biblischen Text mit der lectio divina lesen, sogar viele nichtbiblische Texte. Aber ich empfehle dir, ebenfalls mit einem Evangelium zu beginnen. Da es viele Geschichten enthält, ist der Einstieg leichter als zum Beispiel bei einem Lehrbrief. Und besonders wenn du Jesus näher kommen möchtest, ist es hilfreich, sich intensiv mit Ihm zu beschäftigen. Seine Begegnungen mit den Menschen zu beobachten, seine Art zu reden und zu lehren, wie er Menschen heilt, wie er mit denen umgeht, die am Rande der Gesellschaft stehen. Wenn du ihn dabei beobachtest, dann kann deine Beziehung zu Ihm stark wachsen.
Mir ist es sehr wichtig, auch bei der lectio divina kein “bible-picking” zu machen: je nach Lust und Stimmung irgendeine Passage auszusuchen. Stattdessen lese ich über die Tage verteilt einen größeren, zusammenhängenden Text. Die Gefahr dabei, wenn wir willkürlich so kleine Abschnitte der Bibel herausnehmen: wir verlieren den Zusammenhang aus dem Blick, und dadurch kommen wir leicht zu einem falschen Verständnis des Textes. Viele abstruse Lehren sind eben dadurch entstanden: dass Menschen biblische Aussagen aus ihrem Zusammenhang gerissen haben, von ihnen fasziniert waren und auf die irrwitzigsten Ideen gekommen sind, welche Bedeutung diese Texte haben. Lesen wir aber einen längeren Text auf diese Weise, zum Beispiel ein ganzes Evangelium, dann haben wir stets den Zusammenhang vor Augen.
Wie lesen?
Ich habe am Anfang gesagt, dass von dem ersten Schritt, dem Lesen, der ganze Erfolg abhängt. Genauer gesagt: vom richtigen Lesen. Was meine ich damit?
Wenn ich meinen Text vor mir habe, dann lese ich ihn aufmerksam durch. Dann noch einmal, und noch einmal. Ich kann dir nicht sagen, wie oft ich den Text immer wieder lese; das hängt natürlich davon ab, wie lang und wie komplex er ist. Aber ich denke, es sind in der Regel nicht weniger als 5 Mal. Oft auch wesentlich mehr.
Stell dir vor, du bist bei jemandem eingeladen, der dir ein wahnsinnig gutes Essen gekocht hat. Natürlich könntest du dann eine Gabel voll in den Mund schieben, runterschlucken und hoffen, dass dein Magen schon irgendwie damit klarkommt und die guten Nährstoffe rauslöst. Aber das wirst du nicht tun. Wenn du ein Essen geniessen willst, dann wirst du alles sehr gut kauen. Je besser es schmeckt, desto langsamer und häufiger wirst du kauen. Desto genauer wirst du darauf achten, die verschiedenen Nuancen wahrzunehmen. Du willst nichts verpassen. Du isst nicht nur, du geniesst das Essen. Und gut gekaute Nahrung macht es dem Magen ausserdem viel leichter, an die Nährstoffe zu kommen.
Das ist für mich ein Bild dafür, wie ich meinen Text in der lectio divina lese: ich lese ihn so lange, bis ich das Gefühl habe, dass es jetzt genug ist.
Ich lese den Text sehr genau, ganz konzentriert. Und es ist erstaunlich: selbst bei ganz einfachen Aussagen, die ich schon so oft gelesen habe, entdecke ich plötzlich Details, die mir zuvor niemals aufgefallen sind, und schon bei diesem ersten Schritt beginne ich zu ahnen, daß gerade diese kleinen Nebensächlichkeiten für das Verständnis dieses Textes sehr wichtig sein könnten.
Vielleicht fällt mir beim dritten Lesen zum Beispiel ein Wort auf, das ich bei den ersten beiden Durchgängen durch den Text gar nicht wahrgenommen habe. Und vielleicht fällt mir beim fünften Lesen wieder etwas anderes auf. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals einen Text vor mir hatte, in dem mir nicht irgendetwas auffiel, das ich bisher niemals wahrgenommen hatte.
Es geht also darum: während der lectio, der Lesung, den Text wirklich zu lesen. Wir sollten uns bemühen, das zu lesen, was da steht, und nicht das, was wir über diesen Text bereits im Kopf haben. Ich lese so, als hätte ich den Text noch niemals zuvor gesehen. Ich lese den Text so lange immer wieder, bis ich das Gefühl habe, daß ich mich an alles, was er enthält, erinnere. Ich muß den Text dafür nicht auswendig kennen, aber er sollte mir immerhin in allen Einzelheiten bewußt sein.
Wir brauchen keine Angst zu haben, daß der Text zu wenig hergeben könnte. Wenn zwei Verliebte zusammen sind, dann sagt unter ihnen manchmal ein einzelnes Wort mehr als ein langer Monolog oder ein Brief. Und wenn wir Gott so zu uns sprechen lassen, sind wir mit unserem Geliebten zusammen.
Das ist ein Grund dafür, daß ich empfehle, nur sehr kurze Texte für die lectio divina zu verwenden. Ist der Text zu lang, wirst du ihn nicht in allen Einzelheiten in deinem Bewußtsein haben können. Das aber ist Voraussetzung für die ruminatio und den zweiten Schritt: die Meditation.
Aber was ist, wenn dir trotz aller Bemühungen der Text überhaupt nichts sagt? Dann bleibe auch dabei ganz entspannt. Lies dann einfach etwas weiter, bis du merkst: hier könnte Gott mich ansprechen. Aber versuche, nicht zu schnell zu einer anderen Bibelstelle überzugehen; es könnte sonst sein, daß du ein Geschenk, eine Überraschung verpasst. Manchmal musst du etwas suchen, bis du einen Schatz findest.
Beispiel
Als Beispiel möchte ich den Weg der lectio divina erklären anhand eines konkreten Beispiels: Jesus ist in einem Haus zu Gast, als ein paar Männer das Dach des Hauses durchbrechen und auf einer Trage einen kranken Freund herablassen. Diese Geschichte steht in Markus 2, 1-12. Ich möchte hier einmal aufzeigen, wie ich persönlich an diese Stelle herangehe.
Ich schlage also meine Bibel auf und denke: “Oh super, was für eine tolle Geschichte! Was steckt da alles drin: der Kranke, Jesus, die Heilung, die Hingabe der Freunde, die diese Heilung erst möglich machte, usw.”
Aber siehst du, was hier passiert? All diese Gedanken kommen aus dem heraus, was ich über die Geschichte bereits weiß. Und diese Gedanken bergen die Gefahr, genau das zu verstellen, was der Text heute für mich bereit hält. Falls du die Geschichte noch nicht kennst, dann lohnt es sich besonders, sie einmal mit Hilfe der lectio divina zu lesen. Genaugenommen hast du es sogar etwas leichter als jemand, der sie in- und auswändig kennt.
Jesus hat einmal gesagt, dass der gute Schriftgelehrte aus dem reichen Schatz der Schrift Altes und Neues hervorholen kann (Mt. 13, 52). Dafür muss ich aber das Neue erstmal sehen können, und mich nicht vom Altbekannten ablenken lassen.
Die erste Frage ist dann: wie viel lese ich? Ich habe ja schon gesagt, daß ich versuche, auch zusammenhängende Geschichten in kleinere Abschnitte zu unterteilen, um wirklich mitzubekommen, was Gott mir durch sie sagen will.
Trotzdem lese ich als erstes die ganze Geschichte einmal durch. Das hilft mir, den Überblick zu bekommen, worum es eigentlich geht. Das ist mir wichtig. Würde ich nur einen einzelnen Vers lesen, dann fehlt mir ganz einfach der Zusammenhang. Dieses Lesen der gesamten Geschichte mache ich allerdings nur am Anfang. In den folgenden Tagen fahre ich jeweils an der Stelle fort, an der ich beim letzten Mal aufgehört habe.
Aber wie gesagt ist diese wunderbare Heilungsgeschichte viel zu lang, um sie auf einen Rutsch wirklich zu verstehen. Nach dem kompletten Durchlesen beginne ich also wieder am Anfang des Textes und lese den Teil, den ich für meine lectio divina hernehmen möchte. Wie viel ist das? Ich habe mir angewöhnt, nur genau so viel zu lesen, wie nötig ist, um Jesus in dem Text sehen zu können. Und das sind in unserem Fall die ersten 2 Verse:
1 Als er nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum hineinging, wurde bekannt, dass er im Hause war. 2 Und es versammelten sich so viele Menschen, dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war; und er verkündete ihnen das Wort. (Mk 2, 1-2, EÜ)
Das ist der Text, für den ich mich entscheide. “Das ist aber nicht sehr reichhaltig, was da steht”, denkst du vielleicht. Und ganz ehrlich: genau das denke ich auch zunächst. Aber ich habe schon zu oft erfahren, wie Gott mich genau dann überrascht, wenn ich mit so wenig Erwartungen an den Text herangehe. So lese ich diesen Text, lese ihn immer und immer wieder, versuche, jedes Wort aufzunehmen, das hier steht.
Vielleicht merke ich dabei, dass mir einzelne Worte besonders auffallen. Die lege ich dann, bildlich gesprochen, auf ein Regal im Hinterkopf, weil ich später gerne noch darauf zurückkommen möchte.
So bekomme ich in diesem ersten Schritt der lectio divina, dem Lesen, mehr als einen Überblick über den Text. Ich lerne ihn sehr gut kennen: was in ihm passiert, die beteiligten Personen, vielleicht ausgesprochene Gedankengänge, die Handlungen. Wenn mir all das bewusst ist, wenn ich es in meinem Bewusstsein “besitze”, kann ich zum nächsten Schritt weitergehen: der [Meditation].
Titelbild: unter Verwendung eines Fotos von [Priscilla Du Preez (Unsplash)]
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Siehe dazu die Erklärung in [lectio divina: 1 - Einleitung]. ↩