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In ihrer klassischen Form, wie sie von dem Kartäusermönch Guigo (+1193) das erste Mal beschrieben wird, ist die [lectio divina] eine Leiter mit vier Sprossen, die über die Lesung, das Gebet und die Meditation zur Kontemplation führen soll, zur Begegnung mit Gott.

Dabei ist die lectio divina nicht als starre Methode zu verstehen, sondern eher als ein Weg, der auf verschiedene Arten gegangen werden kann. So ist es für mich durchaus normal, dass ich zum Beispiel während des Gebets wieder zurückgehe zur Meditation, die dann wieder ins Gebet mündet. Auch wenn die Grundstruktur bleibt, wird sich das Erleben der lectio divina je nach der Lebenssituation des Betenden ändern. Sie kann und sollte also etwas Lebendiges sein. So, wie auch ein Gespräch mit einem vertrauen Menschen nicht immer nach demselben Schema ablaufen wird.

Ricardo L. Franco 1 beschreibt eine Form der lectio divina, die sich in lateinamerikanischen Gemeinschaften entwickelt hat2. Latinos erleben sich oft als Fremdlinge. Sie stehen kulturell, politisch, wirtschaftlich und religiös eher am Rande der Gesellschaft. Darin erkennen sie eine Parallele zu Jesus, der als Galiläer in Israel ebenfalls ein Außenseiter war. Aber gerade durch diese Eigenschaft konnte seine Schriftauslegung die Menschen besonders berühren.

Franco beschreibt die lateinamerikanische Form der lectio divina in sechs statt wie gewohnt vier Schritten3. Dabei verwendet er die Geschichte von den Emmaus-Jüngern als Beispiel (Lk. 24, 13-35). Die Schritte sind:

  1. Konversation (conversatio): Die Jünger gehen und sprechen mit dem Fremden über all die Dinge, die geschehen waren (Verse 13-24).
  2. Lesung (lectio): Der Fremde interpretiert auf dem Weg die Schriften, beginnend mit Mose und den Propheten (Verse 25-27).
  3. Meditation (meditatio): Der Fremde erklärt die Schriften, und das Herz der Jünger brennt (Vers 32).
  4. Gebet (oratio): Die Jünger drängen den Fremden, bei ihnen zu bleiben (Verse 28-29).
  5. Kontemplation (contemplatio): Der Fremde bricht das Brot, den Jüngern werden die Augen geöffnet und sie erkennen, dass es Jesus ist (Verse 30-31).
  6. Aktion (actio): Mit offenen Augen und brennenden Herzen kehren die Jünger nach Jerusalem zurück, um zu berichten, was sie erlebt haben (Verse 33-35).

Konversation (conversatio)

 Am selben Tag gingen zwei von den Jüngern nach Emmaus, einem Dorf, das zwei Stunden von Jerusalem entfernt liegt. Unterwegs sprachen sie miteinander über alles, was in den zurückliegenden Tagen geschehen war. (Lk. 24, 13-14)

Die Jünger beginnen nicht mit der Frage: “Was sagt uns die Bibel heute?” Sie unterhalten sich ganz normal darüber, was in ihrem Leben gerade geschehen ist. Und das alles bestimmende Thema ist: Jesus, ihr Lehrer, ist hingerichtet wurde. Sie sind verwirrt, haben Angst. All ihre Hoffnungen sind zerstört. War dieser Jesus doch nur ein Scharlatan? Haben sie ihr Leben eingesetzt für eine Sache, die es nicht wert war? Sie können über nichts anderes reden.

Vielleicht ist ihr Weg nach Emmaus eine Flucht: nur weg von dem Ort, wo auch ihnen Verfolgung drohen könnte, weil sie als Nachfolger des Hingerichteten bekannt sind.

Und während sie so miteinander redeten und sich Gedanken machten, trat Jesus selbst zu ihnen und schloss sich ihnen an. Doch es war, als würden ihnen die Augen zugehalten: Sie erkannten ihn nicht. (Lk. 24, 15-16)

Nun, das ist erstaunlich: Jesus ist bei ihnen, aber sie erkennen ihn nicht. Für sie ist er einfach ein anderer Reisender, der sich ihnen angeschlossen hat. Doch dieser Fremde hat ein Ziel: er möchte die Fragen und die Ernüchterung der Jünger zu einer Grundlage für tiefere, geistliche Erkenntnis machen. Er will, dass sie die Dinge, über die sie sprechen, aus einer anderen Sicht sehen: durch die Brille der alten Schriften Israels.

Wir kennen das Problem, das die beiden Männer haben, sehr genau. Wenn wir etwas lesen, sind wir niemals unvoreingenommen. Wir kommen immer mit unseren Erfahrungen, Enttäuschungen und Hoffnungen. Das Gelesene verstehen wir dann auf diesem Hintergrund. Das gilt auch, wenn wir in der Bibel lesen. Es ist so schwer, innerlich einen Schritt zurückzutreten, und einen Text zu lesen wie beim ersten Mal. Diese Geschichte ist für mich ein Hinweis, dass wir alleine oft einfach nicht weiterkommen. Dass wir Hilfe von aussen brauchen, um Wahrheit zu erkennen. Und diese Hilfe bietet Jesus an.

»Worüber redet ihr denn miteinander auf eurem Weg?«, fragte er sie. Da blieben sie traurig stehen, und einer von ihnen – er hieß Kleopas – meinte: »Bist du der Einzige, der sich zur Zeit in Jerusalem aufhält und nichts von dem weiß, was dort in diesen Tagen geschehen ist?« – »Was ist denn geschehen?«, fragte Jesus. Sie erwiderten: »Es geht um Jesus von Nazaret.« (Lk. 24, 17-19)

Und dann erzählen sie dem Fremden von Jesus, der ein Prophet gewesen sei. Der wegen Hochverrats verurteilt und hingerichtet wurde. Und dass gerade am Morgen dieses Tages ein paar Frauen feststellen mussten, dass das Grab leer sei. Offensichtlich, das liegt ja nahe, will die Staatsmacht alle Spuren ihres Meisters auslöschen.

[Lesung] (lectio)

Da sagte Jesus zu ihnen: »Ihr unverständigen Leute! Wie schwer fällt es euch, all das zu glauben, was die Propheten gesagt haben!« Dann ging er mit ihnen die ganze Schrift durch und erklärte ihnen alles, was sich auf ihn bezog – zuerst bei Mose und dann bei sämtlichen Propheten. (Lk. 24, 25.27)

Jesus beurteilt also zunächst den Zustand der Jünger. Er bezeichnet sie als unverständig und ungläubig. Sie sind lethargisch und können nicht wirklich wahrnehmen, was um sie herum geschieht. Sie sind “trostlos”.

Aber dann zeigt Jesus ihnen, dass diese Ereignisse in den heiligen Schriften schon angedeutet wurden. Und offensichtlich geht er dabei sehr sorgfältig vor: er geht die gesamte Schrift durch, von den Mose-Büchern bis zu den Propheten, das, was wir als das Alte Testament kennen.4

Übertragen auf die lectio divina entspricht dieser Teil der Geschichte der Lesung.

[Meditation] (meditatio)

Dann beginnt Jesus, den Jüngern den Sinn der Geschehnisse zu erklären. Er deutet sie vollkommen anders als sie:

»Musste denn der Messias nicht das alles erleiden, um zu seiner Herrlichkeit zu gelangen?« (Lk. 24, 26)

Der Fremde bezeichnet Jesus als den Messias, den Gesalbten Gottes. Er sagt damit: es war kein gescheiterter Wanderprediger, der da getötete wurde; es war der Auserwählte Gottes. Und mehr noch: sein Tod war nicht einfach die größte Erniedrigung, die einem Menschen zugefügt werden konnte. Er war der Schritt in eine Zukunft, die noch gar nicht abzusehen ist. Gott hatte den Menschen Jesus verherrlicht.

Welch ein Perspektivwechsel. Der Fremde holt die Jünger aus ihrer Depression, stellt ihr Bild von Jesus wieder her. Die Jünger beschreiben das später selbst so:

»War uns nicht zumute, als würde ein Feuer in unserem Herzen brennen, während er unterwegs mit uns sprach und uns das Verständnis für die Schrift öffnete?« (Lk. 24, 32)

Dies ist ein sehr wichtiger Schritt. Die persönliche Geschichte der Jünger verschmilzt mit der übergreifenden Geschichte der Schrift. Die Jünger beginnen die Ereignisse im Licht der Schrift zu sehen.5 Sie sehen Jesus mit anderen Augen.

In der lectio divina geschieht das während der Meditation: wir kommen der Bedeutung des Textes näher, beginnen zu verstehen.

Der Schritt der Meditation trägt zu unserer notwendigen andauernden Umkehr bei. Wenn das nicht geschieht, wenn unser Leben nicht durch die Schrift erhellt und geändert wird, kann man nicht von lectio divina sprechen.

Anders als in der klassischen lectio divina ist die Meditation in lateinamerikanischen Gemeinschaften eine gemeinschaftliche Übung, in der über die aktuellen Lebensumstände gesprochen wird. Und wie die Schrift darauf angewandt werden kann.6

Bezogen auf unsere Praxis der lectio divina ergibt sich damit ein sehr interessanter Ansatz, besonders dann, wenn sie in der Gruppe geübt wird. Was wäre, wenn wir einmal nicht von einem Bibeltext, sondern von unserem eigenen Leben ausgehen, wie die Jünger in unserer Geschichte? Wenn wir über die Situationen sprechen, in denen wir uns schwertun, wo wir verletzt und enttäuscht und ängstlich sind? Und dann, im Vertrauen darauf, dass Jesus bei uns ist und uns leitet, nach Impulsen aus der Schrift für unsere aktuelle Situation suchen?

[Gebet] (oratio)

Noch haben die Jünger nicht erkannt, dass der Fremde Jesus ist. Aber die Auslegung der Schriften hat sie im Innersten berührt. Ihr geistlicher Durst ist geweckt. Sie wollen mehr von ihm hören.

 So erreichten sie das Dorf, zu dem sie unterwegs waren. Jesus tat, als wollte er weitergehen. Aber die beiden Jünger hielten ihn zurück. »Bleib doch bei uns!«, baten sie. »Es ist schon fast Abend, der Tag geht zu Ende.« Da begleitete er sie hinein und blieb bei ihnen. (Lk. 24, 28-29)

Noch verstehen die Männer nicht, wer der Fremde ist. Aber sie sind von ihm, von dem, was er sagt, tief berührt. Sie wollen nichts mehr, als dass er noch eine Zeitlang bei ihnen bleibt. Und der Fremde geht auf ihre Bitte ein.

[Kontemplation] (contemplatio)

Als er dann mit ihnen am Tisch saß, nahm er das Brot, dankte Gott dafür, brach es in Stücke und gab es ihnen. Da wurden ihnen die Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Doch im selben Augenblick verschwand er; sie sahen ihn nicht mehr. (Lk. 24, 30-31)

Bei jedem gemeinsamen Mahl können Gastfreundschaft und Tischgemeinschaft zu heiligen Anlässen werden.7 In lateinamerikanischen Gemeinschaften wird das gelebt, indem es bei allen möglichen Arten von geistlichen Treffen ausgedehnte Zeiten der Gemeinschaft gibt.

Während die klassische lectio divina die Kontemplation als die unmittelbare Begegnung mit Gott versteht, sehen Latinos sie manchmal eher als die Begegnung mit Gott “durch das Angesicht des anderen, des Nachbarn, des neuen Einwanderers, und des Gastes”8.

Wie wäre es, wenn wir das in unserer gemeinsamen lectio divina einmal versuchen: die Gegenwart Gottes in den anderen wahrzunehmen? Seine Worte durch ihren Mund zu hören? Zu spüren, wie er uns durch ihre Augen ansieht? Ich glaube, das ersetzt nicht die tiefe, persönliche Begegnung mit Gott in der Stille. Aber es kann dem einen oder anderen vielleicht den Zugang zu ihr erleichtern.

Aktion (actio)

Es dürfte schon deutlich geworden sein, dass in lateinamerikanisch geprägten Gemeinschaften viel Gewicht auf die Lebenspraxis gelegt wird. Das ist auch immer ein Ziel der lectio divina. Wenn sie sich nicht auf unser Leben auswirkt, läuft sie ins Leere. Michael Casey schreibt:

Wenn die lectio divina über die wenigen Momente ihrer Ausübung hinaus keine Wirkung hat, dann lohnt es sich kaum, sie zu tun. Sie würde auf das Niveau der hingebungsvollen Selbstgefälligkeit reduziert.9

Auch für Eugene H. Peterson zielt die lectio divina auf konkrete Auswirkungen:

lectio divina bedeutet die Anerkennung einer organischen Verbindung zwischen dem Wort ‘gelesen’ und dem Wort ‘gelebt’.10

In der Emmaus-Geschichte ist die Begegnung mit Jesus ebenfalls nicht das eigentliche Ziel. Jesus hat mit ihnen gesprochen, hat ihnen die Schrift erklärt und mit ihnen gegessen - und völlig natürlich folgt eine Aktion: die Jünger reagieren.

Unverzüglich brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück. Dort fanden sie alle versammelt, die Elf und die, die sich zu ihnen hielten. Man empfing sie mit den Worten: »Der Herr ist tatsächlich auferstanden! Er ist Simon erschienen!« Da berichteten die beiden, was sie unterwegs erlebt und wie sie den Herrn erkannt hatten, als er das Brot in Stücke brach. (Lk. 24, 32-35)

In der Latino-Tradition ist das Ziel der Bibellese nicht, die Bibel besser zu verstehen, sondern

[…] uns selbst im Licht des Wortes Gottes besser zu verstehen und zu entdecken, was Gehorsam von uns verlangt.11

Diese Tradition beinhaltet also die Verpflichtung, das soziale und institutionelle Umfeld kritisch zu hinterfragen, um den Leser zum Handeln zu bewegen.

In der hispanischen Gemeinschaft wird nicht diejenige Bibelauslegung am meisten geschätzt, die uns hilft, schwierige Textstellen zu verstehen, sondern vielmehr diejenige, die uns hilft, unsere eigenen schwierigen Passagen auf der Pilgerreise des Gehorsams zu verstehen.12

Ich glaube: der letzte Schritt, die Aktion, ist sehr wichtig. Es ist leicht, am Ende der Gebetszeit die Bibel zu schließen und zur Tagesordnung überzugehen. Aber wir nehmen uns damit so viel von dem, was Gott uns geben möchte. Es kostet nicht viel, auf dem Hintergrund des Gelesenen zu fragen: “Was willst du, dass ich heute tun soll?” Das kann den Unterschied machen in unserem Leben und unserer Umgebung.

Mut zum Experimentieren

Der Artikel von Ricardo L. Franco hat mich sehr inspiriert. Er ist ein gutes Beispiel für die Breite an Möglichkeiten, die die uralte Übung der lectio divina eröffnet. Vielleicht braucht es etwas Mut, die vorgegebenen Schritte auch einmal zu verlassen und weiterzudenken. Aber es lohnt sich, zu experimentieren.

Die lectio divina bietet Ansätze für unterschiedliche Herangehensweisen. Sie darf angepasst werden, je nach der Situation der Gemeinschaft, in der sie ausgeführt wird.

Wenn du deine eigenen Erfahrungen mit der lectio divina gemacht hast, bin ich sehr gespannt, darüber zu hören. Wie immer kannst du sie in die Kommentare schreiben, oder auch in einer persönlichen Mail an mich.



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Quellen:

Titelbild: Everhard Rensig oder Gerhard Remisch - Victoria and Albert Museum, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32907849

Literatur:

Casey (1996)
Michael Casey - Introduction to Sacred Reading: The Ancient Art of Lectio Divina. Liguori, Missouri: Triumph Books, 1996.

Franco
Ricardo L. Franco - Reading Through the Eyes of the Stranger: The Latin Practice of Lectio Divina.

González (1990)
Justo L. González - Mañana: Christian Theology from a Hispanic Perspective. Nashville: Abingdon, 1990.

Peterson (2006)
Eugene H. Peterson - Eat This Book: A Conversation in the Art of Spiritual Reading. Grand Rapids, Michigan: Eerdmans, 2006.

Fußnoten:
  1. Ricardo L. Franco ist Doktor der Boston University School of Theology und ordinierter presbyterianischer Pastor. 

  2. Ricardo L. Franco - Reading Through the Eyes of the Stranger: The Latin Practice of Lectio Divina. 

  3. Franco, S. 7 

  4. Franco, S. XXX 

  5. ebd. 

  6. ebd. 

  7. Franco, S. 12 

  8. ebd. 

  9. Casey (1996), S. 72 

  10. Peterson (2006), S. 113 

  11. González (1990), S. 86 

  12. González (1990), S. 87