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Vor einiger Zeit kaufte ich am Bahnhof eine Obdachlosen-Zeitung. Als ich sie im Hotel aus der Tasche zog, fand ich auf der Titelseite ein schwarz-weisses Foto. Mein erster Gedanke: ein Obdachloser auf einer Parkbank. Wie es sie überall gibt. Aber dann sah ich die Wunden in den Füßen, und ich erschrak. Offensichtlich war es Jesus, der hier dargestellt war.

Dieses Bild hat mich sehr berührt. Es zeigt die Skulptur “Homeless Jesus” des kanadischen Künstlers Timothy Schmalz. Noch heute, Monate später, liegt das Foto auf meinem Schreibtisch.

Die sehr realistisch gestaltete Bronze-Skulptur zeigt einen Obdachlosen, der sich in eine Decke hüllt. Er will sich vor der Kälte schützen, vielleicht auch vor den Blicken der Menschen. Das Gesicht ist kaum zu sehen, die Person nahezu gesichtslos. Das einzige, was stutzig macht, sind die Nagelwunden an den nackten Füßen, die unter der Decke hervorschauen. Nur daran ist erkennbar, dass es Jesus ist, der hier abgebildet ist. Jesus, der sich auf dieselbe Stufe gestellt hat wie die Randfiguren, die Ausgegrenzten, die Übersehenen, die Unsichtbaren.

Timothy Schmalz sagt:

Der ‘Heimatlose Jesus’ war immer dazu gedacht, die Sicht der Menschen auf die Armen direkt vor unserer Nase zu hinterfragen.1

Der Auslöser für die Entstehung dieses Werkes war nach Schmalz die Begegnung mit Obdachlosen im Jahr 2013.

Ich war schockiert. Da war vor allem eine Person, die völlig mit einer Decke zugedeckt war. Das hatte etwas Eindringliches - diese zerbrechliche menschliche Gestalt im krassen Gegensatz zu all der Geschäftigkeit, die sie umgab. Ich fühlte einfach, dass ich Jesus sah. Ich konnte den Gedanken nicht loslassen, dass ich gerade Jesus gesehen hatte.2

Damit andere Menschen genau dieselbe Erfahrung machen können, entschloss er sich, die Szene nachzubilden.

Es ist interessant, dass die liegende Figur nicht die komplette Bank besetzt. Das fiel mir auf, als ich das Foto auf der Zeitung betrachtete. Die Symmetrie der Darstellung schien mir etwas gestört. Aber wie ich inzwischen weiss, ist das so gewollt. Die Skulptur lädt im wahrsten Sinne des Wortes dazu ein, zu den Füßen Jesu zu sitzen. Schmalz sagt dazu:

Als ich auf der Bank saß, während ich die Jesus-Figur modellierte, dachte ich: ‘Meine Güte, ich bin noch nie wirklich in die Nähe eines Obdachlosen gekommen.’

Ist es nicht interessant, dass es oft eine Blase gibt, die wir schaffen, oder ein Kraftfeld, das wir aufbauen, damit wir den ausgegrenzten Menschen nicht zu nahe kommen? Also dachte ich, ich werde hier eine Einladung aussprechen. Ich werde einen Platz zum Sitzen und Berühren der Skulptur schaffen, vielleicht zum Beten, vielleicht zum Meditieren.”3

In New York traf Schmalz einen Obdachlosen, der ihm erzählte, die Skulptur sei sein “Gebetsort” geworden. Tatsächlich hätten die Obdachlosen etwas wie ein Eigentumsgefühl für die Statue und betrachten sie als “ihr Denkmal”.4

Inzwischen hat “Homeless Jesus” weltweite Verbreitung gefunden. Einige Fotos der Orte, wo eine Kopie der Skulptur steht, kannst du auf der [Homepage von Timothy P. Schmalz] sehen.

Und du und ich?

Ich möchte dich und mich ermutigen: lass uns einmal ehrlich unsere Haltung gegenüber den Menschen hinterfragen, die ganz am Rande der Gesellschaft leben.

  • Wenn ich einen Obdachlosen sehe: schaue ich dann schnell weg?
  • Wenn er mich um Geld bittet: gehe ich dann davon aus, dass er es sowieso nur für Alkohol ausgibt?
  • Wechsel ich vielleicht sogar die Strassenseite, wenn ich einen Bettler sehe?

All dieser Dinge habe ich mich schon schuldig gemacht. Aber muss das so bleiben? Ich glaube nicht. Warum versuchen wir es nicht einmal:

  • einem Obdachlosen in die Augen zu sehen,
  • einem Bettler etwas Geld in die Hand zu legen,
  • ihm ein paar freundliche Worte zu schenken.

Ich weiss, wie viel Überwindung das kostet. Umso mehr, wenn du wie ich eher introvertiert bist. Aber vielleicht fällt es uns leichter, wenn wir uns dabei an das Bild des obdachlosen Jesus erinnern. Und ich habe es erlebt: wie vieles anderes können wir es lernen, den Armen, den Obdachlosen als Menschen wahrzunehmen, statt als unangenehmes Hindernis am Straßenrand. Mit der Zeit wird auch das uns immer leichter fallen.

Wäre es nicht ein Ziel, für dass es sich zu leben lohnt, dass Jesus eines Tages zu dir und mir sagt:

Ich war hungrig - und du hast mir zu essen gegeben.
Ich war durstig - und du hast mir zu trinken gegeben.
Ich war fremd - und du hast mich aufgenommen.
Ich war nackt - und du hast mir Kleidung gegeben.
Ich war krank - und du hast mich besucht.
Ich war im Gefängnis - und du bist zu mir gekommen.
Was du für einen meiner geringsten Brüder getan hast, das hast du mir getan.
(Mt. 25, 35-36.40; NG)



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Quellen:

Titelbild: unter Verwendung eines Fotos von [Rodhullandemu - Own work, CC BY-SA 4.0]

  1. [anglicannews.org], 2019-11 

  2. [eternitynews.com.au], 2018-08-02 

  3. ebd. 

  4. ebd.