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Ältestes bekanntes Portrait von Augustinus, Lateran-Basilika, Rom. 6. Jhd.

Wie kommt es eigentlich, dass es vielen Christen (wie auch mir) oft so schwer fällt, sich als solche zu outen? In einer Welt, die doch eigentlich sehr offen ist für Spiritualität jeder Art? Wo jeder glauben darf, was er für richtig hält?

“Guter” und “böser” Fundamentalismus

Ich denke, das hängt stark mit dem Bild zusammen, das in Teilen der Gesellschaft über Christen herrscht. Von dem ich nicht will, dass die Leute mich damit identifizieren. Manche christliche Gruppierungen zeichnen sich einfach durch rückständige Ansichten aus, gelten als altmodisch, leichtgläubig, als fundamentalistisch. Und spätestens dieser Verdacht rückt uns unangenehm nah an Bewegungen heran, zu denen wir keinerlei Parallelen sehen, wie (rechts-)radikalen christlich-fundamentalistischen Gruppen in den USA, oder moslemischen Fundamentalisten.

Solange Fundamentalismus bedeutet, dass wir an der Bibel festhalten, dem Fundament unseres Glaubens, solange jemand darunter versteht, dass er die Bibel als das inspirierte Wort Gottes ansieht, dem er Autorität einräumt - so lange kann ich damit gut leben. In diesem Sinn bin ich ein “Fundamentalist” (autsch, allein das so zu schreiben tut schon weh). Problematisch wird es für mich, wenn jemand die Bibel sozusagen als von Gott “diktiert” versteht, und damit verbindet, dass jedes Wort genau so von Gott autorisiert ist, wie es da steht. Leider wird gerade das oft unter Fundamentalismus verstanden. Und nein: damit identifiziere ich mich nun wirklich nicht. Oder sagen wir: heute nicht mehr.

Jugendlicher Fundamentalismus

Als Jugendlicher gehörte ich der katholischen Kirche an. Ich erinnere mich noch genau an heisse Diskussionen, die ich mit einem Bekannten, einem Theologie-Studenten führte. Seine Haltung zur Bibel war mir verdächtig stark von “modernen” Ansichten geprägt. Er wollte mir erklären, dass manche Stellen eben nicht wörtlich zu nehmen sind. Dass sie ausgelegt werden müssen. Meine Antwort damals war: “Meinst du wirklich, dass Gott nicht groß genug ist, dass er sein Wort durch all die Jahrhunderte rein und unversehrt erhalten hat? Dass er sich in der Schrift nicht so ausdrückt, dass wir sie unmittelbar verstehen können? Ohne gelehrte Ausleger?” (Ja: auch in der katholischen Kirche kann es Bibel-Fundamentalismus geben.)

Diese Haltung kam nicht von Ungefähr. Sie entsprang meiner Ehrfurcht vor Gott und seinem Wort. Aber mit den Jahren wandelte sich langsam mein Verständnis der Art, wie Gott durch die Bibel spricht. Entscheidende Bedeutung hatte dabei mein eigenes (katholisches) Theologie-Studium. Damit fand ich mich dann irgendwann an genau demselben Punkt wieder, vertrat dieselben Überzeugungen, wie jener Student aus meiner Jugend.

In der freikirchlichen Gemeinde, zu der ich seit fast 30 Jahren gehöre, gibt es durchaus auch Menschen, die ein eher fundamentalistisches Bibelverständnis vertreten in dem Sinne, wie ich es früher tat. Im Laufe der Jahre habe ich viele Diskussionen darüber geführt. Und bin immer wieder auf Menschen getroffen, die einen harten Fundamentalismus vertreten. Aber mindestens genauso oft habe ich mit anderen gesprochen, die unter einem solchen Fundamentalismus leiden. Die verletzt wurden durch die Härte, die damit oft einhergeht.

Luther und Dinosaurier

In den 1980-er Jahren wurde ich, damals immer noch als Katholik, in eine freikirchliche Gemeinde eingeladen. Ich hielt dort einen Vortrag über unterschiedliche Bibel-Übersetzungen. Als ich danach meine Sachen zusammenpackte, kam sehr erbost ein Zuhörer auf mich zu. Er fragte mich, wie ich nur so unkritisch über verschiedene Übersetzungen sprechen könne. Er sei überzeugt, dass die einzige korrekte Bibel die Luther-Übersetzung ist. Wobei man eigentlich gar nicht von “Übersetzung” sprechen könne: Gott habe Luther sein Wort nämlich diktiert.

Nun: ich bin sicher, dass er damit nicht die Lehrmeinung seiner Gemeinde vertrat. Er muss da wohl etwas falsch verstanden haben. Ich glaube, dass auch diese seine Haltung aus Ehrfurcht Gott und seinem Wort gegenüber kam. Aber wenn ich an wirklich heftigen Fundamentalismus denke, dann fällt mir immer wieder diese Begegnung ein.

Ich erinnere mich an einen Gastredner, der vor vielen Jahren ein Seminar in unserer Gemeinde hielt. Er hatte nur ein großes Thema: er wollte beweisen, dass die biblische Schöpfungsgeschichte vollkommen korrekt und zuverlässig ist. Die Argumentation ging ungefähr so: “Die Bibel ist das Wort Gottes, und Gott kann sich nicht irren. Wenn in der Bibel also steht, dass die Erde an 6 Tagen erschaffen wurde, dann stimmt das folglich auch genau so. Sollten angebliche Beweise auftauchen, die etwas anderes behaupten (z.B. versteinerte Dinosaurierknochen), dann müssen sie eben anders gedeutet werden. Warum sollte Gott nicht bereits versteinerte Knochen geschaffen haben? Das wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass die Bibel nicht lügt.”

Die Vorträge dieses Redners waren eine Qual für mich. Das ist eine Art von Fundamentalismus, die mir wehtut, die meiner Meinung nach die Bibel verzerrt. Ich habe mich ganz schnell abgesetzt. Und zum Glück hätte ein solches Seminar heute keine Chance mehr in meiner Gemeinde.

Augustinus und sein Umgang mit Fundamentalismus

So etwas verstehe ich unter hartem Fundamentalismus. Und das ist in der Geschichte des Christentums kein neues Phänomen. Ganz im Gegenteil. Bereits in den ersten Jahrhunderten gab es Menschen, die eine solche strenge Auslegung der Schrift vertraten.

In seinem 12-bändigen Genesis-Kommentar “Über den Wortlaut der Genesis” 1 schreibt Augustinus (354-430):

Oft genug kommt es vor, dass auch ein Nichtchrist ein ganz sicheres Wissen durch Vernunft und Erfahrung erworben hat, mit dem er etwas über den Himmel, über Lauf und Umlauf, Größe und Abstand der Gestirne, über bestimmte Sonnen- und Mondfinsternisse, über die Umläufe der Jahre und Zeiten, über die Naturen der Lebewesen, Sträucher, Steine und dergleichen zu sagen hat. 2

Für Augustinus hatte die Wissenschaft offensichtlich eine eigene Berechtigung, unabhängig von der religiösen Überzeugung des Forschers. Die Frage ist nun für ihn: wie gehen wir mit Wahrheiten um, die anscheinend im Widerspruch zu biblischen Aussagen stehen? Er fährt fort:

Nichts ist nun peinlicher, gefährlicher und am schärfsten zu verwerfen, als wenn ein Christ mit Berufung auf die christlichen Schriften zu einem Ungläubigen über diese Dinge Behauptungen aufstellt, die falsch sind und, wie man sagt, den Himmel auf den Kopf stellen, so daß der andre kaum sein Lachen zurückhalten kann. 3

Augustinus beschreibt hier genau den Fremdschäm-Faktor, den ich so gut kenne, wenn jemand andere überzeugen will, dass Wissenschaft nur in einem biblisch gesteckten Rahmen wahr sein kann.

Eine solche Haltung schadet nicht nur dem Ansehen der Christen, die sie vertreten, sondern auch denen, die sie eigentlich überzeugen wollen:

Daß ein solcher Ignorant Spott erntet, ist nicht das Schlimmste, sondern daß von Draußenstehenden geglaubt wird, unsere Autoren hätten so etwas gedacht. Gerade sie, um deren Heil wir uns mühen, tragen den größten Schaden, wenn sie unsere Gottesmänner daraufhin als Ungelehrte verachten und zurückweisen. Denn wenn sie einen von uns Christen auf einem Gebiet, das sie genau kennen, bei einem Irrtum ertappen und merken, wie er seinen Unsinn mit unseren Büchern belegen will, wie sollen sie dann jemals diesen Büchern die Auferstehung der Toten, die Hoffnung auf das ewige Leben und das Himmelreich glauben, da sie das für falsch halten müssen, was diese Bücher geschrieben haben über Dinge, die sie selbst erfahren haben und als unzweifelhaft erkennen konnten?

Es ist unbeschreiblich, wie viel Verdruß und Kummer einsichtigen Brüdern durch solche unbesonnene Eiferer bereitet wird, die von Leuten, die nicht durch die Autorität unserer Bücher gestützt werden, in ihren verkehrten und falschen Ansichten verächtlich zurückgewiesen werden und dann beginnen, das zu verteidigen, was sie in ihrer leichtsinnigen Verwegenheit offenkundig falsch gesagt haben. Und dann wagen sie es auch noch, um sich zu beweisen, unsere heiligen Bücher anzuführen oder aus dem Gedächtnis alles mögliche daraus vorzubringen, von dem sie meinen, es nützte ihnen als Bestätigung, und verstehen doch weder, was sie sagen, noch die Dinge, die sie behaupten (1 Tim 1, 7). 4

Mehr fragen, weniger behaupten

Ich muss sagen: diese klaren Aussagen von Augustinus haben mich wirklich überrascht. Obwohl er die Bibel als das inspirierte Wort Gottes glaubte und lehrte, hatte er eine Weite in seinem Denken, die ich mir heute in manchen Diskussionen wünschen würde. Augustinus hatte es nicht nötig, auf seinem Verständnis der Wahrheit zu bestehen. C. Rebecca Rine charakterisiert seinen Stil im Genesis-Kommentar so:

Für Augustinus […] nahm der Kommentar mehr forschende Züge an. Wie der Übersetzer Edmund Hill in Augustinus’ endgültigen Kommentar zur Genesis […] bemerkt, “unterrichtet der Bischof von Hippo seine Leser, indem er sie an seiner eigenen Suche nach der Bedeutung teilhaben lässt”, anstatt klare Schlüsse über die Bedeutung jedes einzelnen Verses zu ziehen. Augustinus selbst karikiert seine Kommentare als “einen Haufen Fragen”, indem er in der Genesis “eine große Bandbreite wahrer Bedeutungen findet, … herausgearbeitet aus wenigen Worten”5.

Drei Dinge sind es, die mich an der Haltung des Augustinus sehr beeindrucken:

  • Er bekämpft Erkenntnisse aus Erfahrung und Wissenschaft selbst dann nicht, wenn sie dem Wort der Schrift zu widersprechen scheinen.
  • Er, als der Bischof, der Gelehrte, der anerkannte Theologe - er geht dennoch fragend an einen Text heran.
  • Und er lässt auch “eine große Bandbreite” an Bedeutungen als wahr gelten, die andere Christen aus den selben Worten herausgearbeitet haben.

Diese Weite des Denkens wünsche ich mir für mich und für unseren Umgang mit anderen Christen und Nichtchristen. Dazu gehört Demut. Die kann uns den Mut geben, wie Augustinus mit dem Wort der Schrift umzugehen: immer wieder um die (Be)Deutung ringend. Nicht ausgehend von der Überzeugung, die Wahrheit bereits zu kennen. Dann wären wir Fundamentalisten im “guten” Sinne: Menschen, deren Fundament das Wort Gottes ist.

Wenn wir das Wort Gottes so lesen und vertreten wie Augustinus, dann brauchen wir keine Angst davor haben, als Fundamentalisten im Sinne von borniert oder rückständig abgestempelt zu werden.

Und das würde es uns (ja: auch mir) leichter machen, uns als Nachfolger Jesu zu outen.



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Quellen:

Titelbild: by: unknown, https://commons.wikimedia.org. This work is in the Public Domain. Abgerufen: 2019-07-05

  1. Aurelis Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis. Der große Genesiskommentar in zwölf Büchern. Übersetzt von Carl Johann Perl. 1. Band. Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1961. 

  2. Buch 1, Kapitel 19, Abschnitt 39, S. 32-33 

  3. ebd, S. 33 

  4. ebd. 

  5. Rine, C. Rebecca - Interpretations of Genesis 1–2 among the Nicene and Post-Nicene Fathers. In: Since the Beginning: Interpreting Genesis 1 and 2 through the Ages. Baker Publishing Group, 2018. (Eigene Übersetzung.)