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Wenn wir ehrlich sind, ist es schon eigenartig, wie Jesus sich eine funktionierende Gesellschaft vorstellt. Er widerspricht ungeniert unseren Vorstellungen eines “normalen” Gesellschaftssystems, er widerspricht sogar den Naturgesetzen. Und wenn wir ihn ernst nehmen, muss uns seine Vision von Gesellschaft provozieren. Und wir fragen uns: Meint er das wirklich so, wie es in der Bibel steht?

Aber fangen wir am Anfang an.

Konkurrenz: ein Naturgesetz

Wenn ich etwas zu schreiben habe - eine Predigt oder einen Artikel - arbeite ich gerne in einem Cafe. Da kann ich mich wunderbar konzentrieren, manchmal sogar besser, als wenn ich allein im Büro sitze.

Vor einiger Zeit hatte ich dabei ein schönes Erlebnis. Mein Notebook stand vor mir und ich tippte an einer Predigt. Am Nachbartisch sass eine Familie mit drei kleinen Mädchen. Es dauerte nicht lang bis sie entdeckten, dass gegenüber an der Wand ein großer Spiegel hing. Er reichte vom Boden bis zur Decke.

Eines der Mädchen stellte sich vor den Spiegel, begann zu tanzen und schaute sich selbst dabei ganz begeistert zu. Aber es dauerte nicht lange, da kam eine ihrer Schwestern, drängte sich vor sie, und liess nicht zu, dass die kleine Tänzerin noch ihr Spiegelbild sehen konnte. Es war unübersehbar, wie sie das genoss. Sie hatte einen Weg gefunden, Macht auszuüben über ihre Schwester. Sie war in diesem Augenblick die Stärkere.

Aber etwas später konnte ich auch das genaue Gegenteil beobachten: da sassen zwei der Mädchen eng umschlungen da und lachten sich im Spiegel verliebt an, frei und unbeschwert, wie es nur Kinder können.

Das sind tatsächlich zwei Seiten in uns, in jedem von uns. Wir sind fähig zu selbstloser Liebe. Wir sehnen uns nach Annahme, aber auch danach, Liebe zu schenken. Aber dann gibt es auch die Sehnsucht danach, Macht auszuüben. Den anderen kleiner zu machen. Zu zeigen, wer das Sagen hat, wer der Stärkere ist.

Von Anfang an ist unser Verhalten geprägt von Wettbewerb.

Katja Thimm schreibt im Spiegel1 über die Konkurrenz zwischen Geschwistern:

… vom ersten gemeinsam verbrachten Lebensjahr an prägen Eifersucht und Rivalität ihre Beziehung. Mit neun Monaten schon bemerkt der Mensch, dass er andere mit Geschrei, Gebrabbel und süßem Lächeln zu Aufmerksamkeit zwingen kann. Fortan ahnt er, dass all die anderen schreienden, brabbelnden und lächelnden Wesen um ihn herum Rivalen sind, und reagiert eifersüchtig.

Wenn wir etwas grösser werden, dann lernen wir sehr schnell, uns Rivalen vom Hals zu halten. Wer sich durchboxt, wird respektiert. Und als Erwachsene haben wir es dann perfektioniert: es geht darum, mehr Erfolg, mehr Geld, mehr Ansehen, mehr Wissen, mehr Einfluss und mehr Macht anzusammeln.

Das ist vollkommen normal für uns. Wettbewerb ist ein Naturgesetz. Schliesslich gibt es ihn nicht nur zwischen Menschen: auch Tiere und sogar Pflanzen kämpfen um die beste Position2.

Wie unsere Gesellschaft funktioniert

Jeder von uns hat es erfahren:

  • Wer am lautesten schreit, wird am ehesten gehört.
  • Wer am Sichtbarsten ist - durch seinen Besitz, sein Aussehen, durch das, was er darstellt: der wird am ehesten respektiert.
  • Je weiter jemand oben steht in der Rangordnung, desto leichter kann er weiter aufsteigen. Jemand, der unten steht, hat größere Chancen, noch weiter abzusteigen.
  • Wer oben steht, hat mehr Möglichkeiten, solche Strukturen zu ändern. Aber in der Regel wenig Antrieb dazu. Wer aber unten steht, hat zumeist nicht die Kraft dazu.

Schauen wir uns “erfolgreiche” Menschen an - im Arbeitsumfeld, in der Politik, im Showbusiness, selbst auf dem Kinderspielplatz oder in der Gemeinde - überall werden unsere Erfahrungen bestätigt: Der Stärkere gewinnt. Wer sich am besten (oder auch am unauffälligsten) in den Vordergrund drängen kann, der hat das Sagen. Und dafür ist uns fast jedes Mittel recht.

So ist eben unsere Gesellschaft. So war sie schon immer. Und wir alle profitieren doch von den Machern, die die Initiative ergreifen, die Wirtschaft am Laufen halten, die Gesellschaft vorwärtsbringen. Wenn wir uns persönlich nicht am unteren Ende der sozialen Leiter befinden, haben wir eigentlich keinen Grund, die Situation in Frage zu stellen.

Die Gesellschaft zur Zeit Jesu

Aber genau das tut Jesus. Er lehnt unser Modell einer funktionierenden Gemeinschaft ab. Vor 2000 Jahren war er schon mit genau denselben Mechanismen vertraut, die heute noch immer gelten: dem Kampf darum, stärker, größer, mächtiger zu sein.

Er lebte er in einem Land, das unterjocht war von der römischen Besatzung. Natürlich standen die Römer (der Statthalter, die Beamten, die Offiziere und die normalen Soldaten) in der Rangordnung ganz oben. Alle anderen mussten nach ihrer Pfeife tanzen3. Das konnte Jesus jeden Tag beobachten: wie Menschen unterjocht wurden. Aber er kannte auch die Profiteure aus seinem Volk, die sich auf die Seite der Römer schlugen, und sich damit Macht, Posten und Reichtum sicherten.

2000 Jahre später ist es bei uns keine Besatzungsmacht, die unser Leben bestimmt. Theoretisch sind wir frei, stehen uns alle Möglichkeiten offen. Theoretisch hat jeder dieselben Chancen. Aber in der Praxis?

Wie kann es sein, dass eine Frau in unserer Gesellschaft in der Regel weniger Geld bekommt als ein Mann, der dieselbe Arbeit verrichtet? Hat sie wirklich dieselben Chancen? Wie kann es sein, dass im Jahr 2016 Männer im Durchschnitt 1.078 € Rente bekamen, Frauen dagegen nur 606 €?4 Obwohl sie die Hauptlast bei der gesellschaftlich so unverzichtbaren Aufgabe der Kindererziehung tragen?

Wie kann es sein, dass wir unter dem Druck von Corona erstaunt bestimmte Berufe als “systemrelevant” erkennen, die sämtlich zu den am schlechtesten entlohnten Berufen zählen? Diese Erkenntnis war uns einen kleinen finanziellen Zuschuss von Seiten der Regierung wert - aber ich bezweifle, dass sich am Gehalt auf die Dauer viel ändern wird.

Dass zum Beispiel Pflegeberufe oder Erzieher zu den bestbezahlten Berufen in Deutschland gehören könnten - das widerspricht ganz einfach den Grundlagen unseres Systems. Wie kann jemand, der sich unter andere stellt und ihnen wirklich dient, gegen jemanden auftrumpfen, der lediglich das Geld anderer Leute verwaltet? Ich sage damit nicht, dass Banker oder Konzern-Vorstände unwichtig sind; wenn sie gut arbeiten, tragen sie ihren Teil zu einer guten Gesellschaft bei. Aber wenn “systemrelevant” Berufstätige das gleiche Gehalt verdienen würden, stünden ihnen ganz andere Möglichkeiten der Mitbestimmung und -gestaltung ebendieses Systems offen. Und das würde unserer Gesellschaft sicherlich gut tun.

Jesus über Machtstrukturen

Wenn wir die Auswirkungen der Machtverhältnisse in unserer und in der Zeit Jesu vergleichen, dann unterscheiden sich die Situationen in meinen Augen nicht sehr. Beide Gesellschaften sind geprägt von Konkurrenz und Machtstrukturen. Welche Haltung nimmt Jesus dabei ein?

Er sagt über die Mächtigen5 (bei den Textteilen in eckigen Klammern habe ich mir die Freiheit genommen, kulturbedingte Begriffe in unsere Zeit zu übertragen):

Sie bürden den Menschen schwere, fast unerträgliche Lasten auf, denken aber nicht daran, die gleiche Last auch nur mit einem Finger anzurühren. Und was sie tun, machen sie nur, um die Leute zu beeindrucken. Sie achten darauf, dass jeder schon an ihrer Kleidung ihre Position erkennen kann. Bei Festessen und in Gottesdiensten lieben sie es, die Ehrenplätze einzunehmen. Sie genießen es, wenn sie auf der Straße ehrfurchtsvoll gegrüßt und mit ihren Titeln angesprochen werden.

Ihr jedoch sollt euch niemals mit Ehrentiteln ansprechen lassen, denn nur einer steht über euch, und ihr alle seid Brüder. Ihr sollt auch niemand von euren Brüdern auf der Erde mit ‘Vater’ anreden, denn nur einer ist euer Vater, nämlich der im Himmel. Lasst euch auch nicht ‘Lehrer’ nennen, denn nur einer ist euer Lehrer: der Christus.

Und er fasst seine Vision zusammen:

 Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird von Gott erniedrigt werden, wer sich aber selbst gering achtet, wird von Gott erhöht werden.

Unglaublich, oder? Jesus nennt die Dinge beim Namen. Und da gehört schon Mut dazu: sich so offen gegen die allgemein gültigen Regeln zu stellen. Aber Jesus sagt: “Das ist nicht der Weg, der zur Grösse führt.”

Mit seinem Gegenentwurf tut Jesus nichts Geringeres, als eine der Grundlagen seiner und genauso unserer Gesellschaft kompromisslos in Frage zu stellen. In der neuen Gesellschaft, die er sich vorstellt, gibt es kein Oben und Unten. Seine Schüler sollen zu keinem Menschen aufschauen. Sie sollen nur eine einzige Loyalität kennen: die zu ihrem Vater im Himmel, dem Vater Jesu. Untereinander sollen sie alle Geschwister sein.

Wenn das nicht radikal ist! Und so drehte die Obrigkeit seines Volkes Jesus genau daraus einen Strick. Als sie ihn zum römischen Stadthalter brachten, war dies ihre Anklage:

Wir haben festgestellt, dass dieser Mensch unser Volk verführt, es davon abhält, dem Kaiser Steuer zu zahlen, und behauptet, er sei der Christus und König. […] Er wiegelt das Volk auf; er verbreitet seine Lehre im ganzen jüdischen Land. (Lk. 23, 2.5; EÜ)

Für Jesus und viele seiner Schüler, die wie er ihre Loyalität allein Gott schenkten, endete das tödlich. Aber dennoch gab es immer wieder im Lauf der vergangenen 2000 Jahre Menschen, die sich diesem Anspruch Jesu stellten. Die versuchten, ihm gerecht zu werden. Und die ihre Umwelt veränderten: einen Schritt nach dem anderen.

Ein paar Fragen zur Reflektion:

  • Sollte es wirklich möglich sein, so zu leben? Heute? In der Familie, der Schule, der Uni, am Arbeitsplatz?

  • Gibt es Beispiele in deiner Umgebung, wo das, was Jesus lehrt, zumindest teilweise umgesetzt wird?

  • Wen gibt es, zu dem du aufschaust? Der eine höhere Bedeutung hat als der Vater im Himmel? Ein Star, oder dein Chef, oder dein Pastor, oder der Papst? Oder eine politische Ideologie, oder eine Wissenschaft, oder dein Besitz?

  • Haben wir, du und ich, den Mut, uns diesem Anspruch Jesu zu stellen? Und was würde das konkret für uns bedeuten?

Wenn du magst, kannst du deine Gedanken unten als Kommentar hinterlassen.



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Quellen:

Titelbild: Photo by Xuan Nguyen on [unsplash.com].

  1. [Katja Thimm: Rivalen fürs Leben], 2006-01-09 

  2. Ein faszinierender Beitrag zur Konkurrenz zwischen Pflanzen auf der Seite der Universität Tübingen: [Pflanzen zeigen Entscheidungsspielraum im Kampf um Licht] 

  3. Ganz normal war zum Beispiel die Zwangsrekrutierung von beliebigen Personen. Als Jesus zur Hinrichtung geführt wird, beschreibt Markus eine solche Situation: “Unterwegs begegnete ihnen ein Mann, der gerade vom Feld kam […]. Den zwangen die Soldaten, Jesus das Kreuz zu tragen.” (Mk. 15, 21; NeÜ) 

  4. Zahlen aus den alten Bundesländern. Aktuellere Werte habe ich nicht gefunden. Quelle: [Marburg Navigator], 2020-01-15 

  5. Mt. 23, 11-12