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Gebet (oratio)

Aus der [Meditation] kann organisch das Gebet wachsen. Die Meditation ist ein wichtiger Schritt in der lectio divina, aber sie kann das Gebet nicht ersetzen. Denn letztlich kommt es nicht darauf an, intellektuelle Erkenntnisse zu sammeln, sondern in einen Dialog mit Gott einzutreten.

Wenn ich die biblische Geschichte plastisch vor Augen habe, wenn ich sie selbst “miterlebe”, dann ist es fast selbstverständlich, dass ich mit Jesus darüber spreche. Über das, was ich wahrnehme, was ich nicht verstehe, was ich an ihm bewundere, oder was auch sonst mir in der Geschichte wichtig geworden ist. Und über allem: dies ist der Ort der Anbetung, des Lobpreises, und zwar ausgehend von dem Wort Gottes.

Oft wechseln sich bei mir die Schritte der Meditation und des Gebets ab. Ich beobachte, und dann spreche ich mit Jesus darüber. Dann wechsle ich wieder zur Meditation, und so geht es manchmal hin und her.

Das Gebet ist auch die Stelle, in der ich mit ihm über meine eigene Situation spreche. Wo ich ihn bitte, mich die Eigenschaften zu lehren, die ich gerade an ihm sehe und bewundere.

Lass dich lesen

Zu Beginn hatte ich einmal gesagt, dass die lectio divina “mich liest”. Hier wird nun deutlich, wie das aussehen kann. Durch das tiefe Hineingehen in die Geschichte kann mich die Schrift in Frage stellen, mir einen Spiegel vorhalten.

Ein Beispiel aus dem Alltag, wie das funktioniert: körperlich bin ich ja nicht gerade klein. Aber wenn ich neben einem Menschen stehe, der viel größer ist als ich, dann wird meine eigene Größe relativiert. Dann sehe ich meine Größe und mich selbst mit anderen Augen.

So geht es mir auch mit Jesus. Das Betrachten seines Wesens holt automatisch meine eigenen Charaktereigenschaften ans Licht. Dinge, an die ich mich so gewöhnt habe, dass ich sie normalerweise garnicht mehr bemerke. Und das ist eine große Chance: wenn ich mir dessen bewusst werde, kann ich auch darüber sprechen. Ich kann Jesus zum Beispiel um seine Hilfe bitten, wenn ich etwas entdeckt habe, das ich gerne ändern möchte.

Falls es dir schwer fällt, dich selbst im Spiegel des Wortes Gottes zu sehen, bitte den Heiligen Geist um Hilfe. Jesus hat ja gesagt, dass er uns den Heiligen Geist schicken wird, damit er uns “in alle Wahrheit führt” (Joh. 16, 13). Und “alle Wahrheit” bezieht sich nicht nur auf geistliche Erkenntnisse. Der Geist kann dir auch die Wahrheit über dich selbst zeigen.

Aber trotzdem auch hier der Hinweis: bleibe entspannt. Die lectio divina ist kein Vierkampf, bei dem du vier unterschiedliche Disziplinen erfolgreich meistern musst. Auch die Auseinandersetzung mit dir selbst ist eine Kunst, die du lernen kannst. Davon kann ich ein Lied singen. Und Selbsterkenntnis fällt den Männern unter uns manchmal noch schwerer als den Frauen. Wenn du also eine Anspannung bei dir spürst, wenn du das Gefühl hast, du müsstest es anders machen, es sei nicht so perfekt, wie es sein sollte - dann ist vielleicht gerade das der Punkt, über den du mit Jesus sprechen kannst.

Das Gebet im Rahmen der lectio divina ist also nicht der Ort, um für deine Freunde oder andere Anliegen zu beten. Es geht wirklich von der Geschichte aus, die du gerade gelesen hast.

Natürlich kann es vorkommen, dass du bei der Meditation durch eine der handelnden Personen an einen Freund erinnert wurdest. Und nun spürst du den Impuls, ihn in deiner Vorstellung zu Jesus zu führen, und für ihn zu bitten. Was machst du dann? Gebe diesem Impuls nach. Er ist ja sozusagen “organisch” aus der Geschichte entstanden.

Beispiel

Wir kommen wieder zu den 2 Versen zurück, die wir in den vergangenen Einheiten bereits als Beispiel genommen haben. Du findest sie in Markus 2, 1-2.

1 Als er nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum hineinging, wurde bekannt, dass er im Hause war. 2 Und es versammelten sich so viele Menschen, dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war; und er verkündete ihnen das Wort. (Mk 2, 1-2, EÜ)

Die Beobachtung des Geschehens in der Meditation mündet nun ganz natürlich ins Gebet. Ich sage Jesus zum Beispiel, wie toll ich seine Haltung finde. Dass ich es bewundere, wie gleichmütig er es hinnimmt, dass ihm sein Kurzurlaub (siehe [voriger Artikel]) “gestohlen” wurde. (Und spätestens hier sehe ich mich selbst, wie hart ich reagieren kann, wenn mir etwas weggenommen wird. Ob es meine Freizeit ist, oder so etwas Banales wie die Vorfahrt an einer Kreuzung.)

Ich sage ihm, dass ich es toll finde, wie er sich den wildfremden Menschen zuwendet. Dass ich die Liebe bewundere, die er zu diesen Menschen hat. Und die Liebe zu seinem Vater, von der er einfach erzählen muß, weil sie ihn so erfüllt.

Ich sage ihm, welch ein Vorbild es für mich ist, dass er so vollkommen ruhig ist, dass er sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Nicht einmal durch das Bewusstsein, dass es selbst in dem kleinen Ort Kapernaum noch so viele andere Menschen gibt, die seine Botschaft vielleicht niemals hören werden. Dass er einfach das tut, was gerade zu tun ist. Ohne zu klagen, ohne Sorgen, ganz frei, voller Liebe, ohne Perfektionismus. (Und besonders der letzte Punkt ist wieder etwas, bei dem ich mir an meine eigene Nase fasse.)

So fallen mir während des Gebets eine ganze Reihe Situationen ein, in denen ich so ganz anders reagiere als Jesus. Und darüber spreche ich mit ihm. Ich sage ihm meinen Wunsch, auch so sehr mitten im Augenblick zu leben, wie er es tat. Ich bitte ihn, mehr Liebe zu den Menschen meiner Umgebung zu bekommen. Und dass meine Liebe zu ihm und zu unserem gemeinsamen Vater im Himmel so wächst, dass es auch für mich vollkommen natürlich wird, davon zu erzählen. Ich bitte Jesus, dass er mich lehrt, und dass ich ihn immer besser kennenlernen will. Und ich sage ihm, dass er mein Vorbild ist.

Aber vielleicht bete ich Jesus in dieser Zeit auch nur an. Vielleicht merke ich auch, dass er mir Antworten auf meine Fragen und Wünsche gibt. Und so kann diese Gebetszeit länger oder kürzer sein, je nach der Stelle, die ich gelesen habe.

Es kommt darauf an, dass ein Gespräch entsteht. Jedes lebendige Gespräch verläuft aber anders. So gibt es auch nicht die eine Art, wie das Gebet während der lectio divina aussehen wird.

Lass dich auf das Abenteuer ein. Wenn du Fragen hast, stehe ich dir gerne zur Verfügung.



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Quellen:

Titelbild: unter Verwendung eines Fotos von [Priscilla Du Preez (Unsplash)]