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Meditation (meditatio)

Bevor wir den nächsten Schritt in unserer lectio divina gehen, möchte ich noch einmal betonen: der Weg, so wie ich ihn hier darstelle, ist meine Art. Sie passt für mich, und sie hat sich über einen längeren Zeitraum entwickelt. Wenn du an der einen oder anderen Stelle nicht mitgehen kannst, sei ganz entspannt: wenn du dich auf dieses Abenteuer einlässt, wirst du deinen eigenen Weg finden.

Die Rolle der Meditation in der lectio divina

Heute beschäftigen wir uns mit der Meditation (meditatio), dem zweiten Schritt der lectio divina. Meditation – das ist ein weiter Begriff. Viele verstehen darunter, dass die Gedanken zur Ruhe gebracht werden. Dass man in ganz tiefer Ruhe vielleicht Gott begegnet. Auch das hat in der lectio divina seinen Platz, aber am ehesten im letzten der vier Schritte: in der Kontemplation.

Meditation wird hier verstanden im Sinne des ursprünglichen lateinischen Wortes “meditatio”. Das bedeutet: “Nachdenken, Nachsinnen über etwas”1.

Der Sinn der Meditation ist, Jesus besser kennenzulernen, Gott nahezukommen. Ich will offen sein für ihn und lernen, wer er für mich ist. Ich möchte hören, was er mir heute sagen will. Und dabei spielt dieser Schritt eine wichtige Rolle.

Beobachten

Wie beginne ich mit der Meditation? Ich lege die Bibel beiseite und gehe den Text von Anfang bis Ende in Gedanken durch. Ich stelle mir vor, was hier passiert. Auch hier versuche ich, sehr langsam und aufmerksam vorzugehen. Dies ist auch einer der Gründe, warum ich immer nur sehr kleine Abschnitte auf einmal betrachte: ist der Text zu lang, so ist es mir unmöglich, die gesamte Geschichte mit allen Einzelheiten im Kopf zu haben.

Am einfachsten ist es, wenn du dies mit biblischen Geschichten einübst. Nehmen wir an, es ist ein kleiner Abschnitt aus einer Geschichte aus dem Leben Jesu, die du betrachtest. Dann versuche, dir die einzelnen Ereignisse sehr genau vorzustellen. Schau dir die Geschichte an, als ob du sie in einem Film vor dir siehst. Oder noch besser: als wärest du selbst dabei.

Wer ist gerade anwesend? Wie sieht Jesus aus, wie seine Jünger? Was tun die einzelnen Personen in der Geschichte? Wie reagieren sie, was fühlen sie? Sind sie erstaunt, erfreut, entsetzt, schockiert? Ist das, was diese Personen erleben, das, was sie erwartet haben? Was haben sie überhaupt erwartet? Was wissen diese Leute eigentlich von Jesus? Sicherlich nicht das, was du von ihm weißt. Sie sehen ihn als einen einfachen Wanderprediger an, wie es damals viele gab.

Wenn du eine biblische Geschichte so betrachtest, dann ist es fast so, als ob du sie selbst miterlebst. Vielleicht stellst du dir vor, du stehst irgendwo am Rande und schaust zu. Oder du versuchst, die Geschichte zu sehen zum Beispiel durch die Augen eines der Jünger Jesu. Du erlebst selbst mit, wie ein Kranker geheilt wird, den Schock der Erkenntnis, dass dieser Jesus ihm tatsächlich die Schmerzen weggenommen hat, das ungläubige Staunen, das Durcheinander der Gefühle, die ihn durchströmen.

Mir geht es so, dass ich manchmal Tränen in den Augen habe, wenn ich Jesus dabei beobachte, wie er ist, wie er mit den Menschen umgeht, welch wunderbaren Charaktereigenschaften er hat.

Nun kann es sein, dass du dich etwas schwer damit tust, dir Situationen so lebhaft vorzustellen. Dann nimm auf deine Art die Wahrheit ganz tief in dich auf, die in dieser Geschichte enthalten ist. Vielleicht wiederholst du dazu immer wieder die Worte, die Jesus sagt. Oder vielleicht ist es einfach ein bewunderndes “Herr, du bist so gut!”, das du immer wieder still wiederholst, und dabei die Geschichte vor Augen hast. Also finde darin ruhig deinen eigenen Weg.

Dom Chapman, ein geistlicher Lehrer Anfang des 20. Jahrhunderts, hat in Bezug auf das Gebet gesagt::

Pray as you can, not as you can’t!

Bete wie du kannst, nicht wie du es nicht kannst!

Das gilt genauso für die Meditation. Setze dich auf deine Art mit dem Text auseinander, so wie du es kannst. Zwing dich nicht zu etwas, das für dich nicht funktioniert.

Gott hören

Wenn du und ich miteinander sprechen, dann verstehen wir uns oft nicht zu 100 Prozent. Jeder von uns spricht eine andere Sprache. Du bist einfach anders als ich. Du hast andere Vorkenntnisse, Erfahrungen. Ich habe andere Vorurteile als du. All das kann dazu führen, dass bei einem Wort bei dir andere Bedeutungen mitschwingen als bei mir. Aber Gott ist noch so viel weniger mit dir oder mir vergleichbar. Er ist, wie die Mystiker es so wunderbar ausdrückten, “der ganz Andere”. Er scheint manchmal so weit weg zu sein. Er spricht manchmal eine so ganz andere Sprache. Doch das braucht kein Hindernis zu sein. Thelma Hall schreibt:

In Jesus hat er sich selbst in unsere Menschlichkeit übersetzt. In diesem Menschen … steht Gott vor mir, offenbart in Fleisch und Blut. Jesus ist die Offenbarung Gottes, in einer Sprache, die ich verstehen kann, und in einer Person, die ich kennen und lieben kann. Nicht nur als jemand, der irgendwann in der Geschichte lebte und starb, sondern als jemand, der heute und für immer lebt, in meiner Welt, in meinem Herzen.2

Das ist das, was ich hier unter Meditation verstehe: ein Vergegenwärtigen dessen, was die Bibelstelle beschreibt. Du denkst die Geschichte also immer wieder durch, beobachtest, gehst deinen Gedanken nach. Und vor allem beobachtest du dabei Jesus, wie er sich dir zeigt.

Ich möchte dich ermutigen: probier das aus. Es gibt hier kein richtig oder falsch. Wenn die Meditation dich auch nur ein kleines Stück näher bei Jesus sein lässt, wenn sie dir hilft, in ein Gespräch mit Gott zu kommen, dann hat sie ihren Zweck erfüllt. Und denk daran: du bist nicht allein. Noch einmal Thelma Hall:

Letztlich ist es der Heilige Geist, der dich zu beten lehrt. Und was immer jemand anderes dir anbietet, kann nicht mehr sein als eine Hilfe, die dich vorbereitet, diese Lehre anzunehmen und zu erfahren. … Die Liebe ist es, die uns lehrt zu lieben. Und die Liebe folgt keiner objektiven Methode.3

Beispiel

Wie im vorigen Artikel möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen, wie die Meditation konkret aussehen kann. Wir bleiben bei dem Abschnitt, den wir beim letzten Mal gelesen haben. Du findest ihn in Markus 2, 1-2.

1 Als er nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum hineinging, wurde bekannt, dass er im Hause war. 2 Und es versammelten sich so viele Menschen, dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war; und er verkündete ihnen das Wort. (Mk 2, 1-2, EÜ)

Ich hab in der [Einleitung] ja schon gesagt, dass ich Texte immer im größeren Zusammenhang lese. Also z. B. ein ganzes Evangelium, das aber in ganz kleinen Abschnitten. So habe ich mir unsere Heilungsgeschichte nicht willkürlich ausgesucht; ich habe zuvor schon das erste Kapitel des Evangeliums durchgearbeitet. Damit kenne ich den Zusammenhang, in dem diese Geschichte steht. Unmittelbar vorher wird berichtet, dass Jesus sich an einen einsamen Ort zurückzog. Er wollte sich offensichtlich erholen. Die Leute kriegten das aber spitz, und von weit und breit kamen sie zu ihm. Da war also nicht viel mit der Ruhe, die er sich erhofft hatte. Ganz im Gegenteil.

Dann kommt Jesus also nach Kapernaum zurück, sozusagen zu seiner “Basisstation”, und hier passiert wieder genau dasselbe: es kommen so viele Leute zusammen, dass kein Platz mehr bleibt. Sogar vor dem Haus stehen sie. Während ich mich innerlich in diese Szene hineinbegebe, sehe ich, welche Aufregung unter den Leuten herrscht. Sie drängen und drücken und schieben, um möglichst nahe an Jesus heranzukommen. Schließlich ist bekannt, dass Er schon viele große Wunder getan hat. Vielleicht fällt auch für sie etwas ab? Und ich sehe die, die draußen stehen, die sich an den Fensteröffnungen drängen, um ja kein Wort von dem zu verpassen, was Jesus sagt.

Dann beobachte ich Jesus, wie er von diesem missglückten Kurzurlaub kommt, sozusagen von einer Menschenmenge zur nächsten. Wie wird er reagieren? Ich sehe, wie er ganz natürlich anfängt, den Leuten von Gott zu erzählen. Ich sehe ihn, wie er ganz ruhig in der Mitte sitzt, mitten im Trubel, und wie er die Menschen um sich voller Liebe anschaut. Er kann sie einfach nicht wegschicken. Und so gibt er das Beste, was er ihnen geben kann: Er malt ihnen Gott vor Augen. Wie begeistert ist er, welche Liebe strahlt aus seinen Augen, während er von seinem Vater erzählt.

Ich beobachte, wie die aufgeregte Menge immer stiller wird. Wie die unglaubliche Ruhe Jesu sich wellenförmig ausbreitet, bis an die Wände des Hauses, und dann darüber hinaus. Wie die Menschen beginnen die Liebe zu sehen, von der Jesus vollkommen erfüllt ist: der Liebe zu Gott und der Liebe zu ihnen. Und wie bei einigen die Sehnsucht nach einem Wunder mehr und mehr von dem Wunsch verdrängt wird, selbst diese Liebe zu bekommen, die der Wanderprediger in ihrer Mitte ausstrahlt.

Und so beobachte ich immer weiter, nehme wirklich in mich auf, was dort geschieht.

Verstehst du: Es kommt mir darauf an, die Geschichte ganz nah an mich herankommen zu lassen. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob das, was ich mir vorstelle, den historischen Gegebenheiten exakt entspricht oder nicht. Vielleicht stellst du dir das Haus, in dem Jesus sitzt, ganz anders vor, als die Häuser in Israel damals ausgesehen haben. Vielleicht sehen die Leute in deiner Vorstellung anders aus, als die Leute, die damals dabei waren. All das ist nicht wirklich wichtig. Entscheidend ist allein, dass für dich lebendig wird, was damals geschah. Dass du erfasst, wie Jesus an diesem Ort und an diesem Tag so voller Begeisterung zu den Menschen über die Liebe Gottes sprach, begeistert über seinen Gott.

Und jetzt du …

Vielleicht ahnst du jetzt, wie wertvoll dieser Schritt der Meditation sein kann. Er kann dir helfen, Jesus besser kennenzulernen. Das kann dazu führen, dass du vielleicht zum ersten Mal etwas wie Liebe zu ihm fühlst.

Würdest du nach diesem zweiten Schritt aufhören – die lectio divina hätte dir bereits ganz viel geschenkt. Aber das ist noch lange nicht alles. Es kommen ja noch zwei weitere Schritte: das [Gebet (oratio)]* und die Kontemplation (contemplatio).

Ich wünsche dir viel Freude und Segen beim Üben.



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Quellen:

Titelbild: unter Verwendung eines Fotos von [Priscilla Du Preez (Unsplash)]

Fußnoten:
  1. Stichwort “meditatio” bei [Pons.de] 

  2. Thelma Hall - Too deep for words: rediscovering Lectio Divina. New York: Paulist Press, 1988. S. 38f. Übersetzung von mir. 

  3. ebd., S. 41. Übersetzung von mir.