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Einer der vier Schritte der lectio divina ist die Meditation. Dabei versetzen wir uns mit Hilfe unserer Fantasie in den Text hinein. Wir erleben selbst mit, was in einer Geschichte geschieht.

Fantasie an sich ist bestimmt nicht falsch. Denn:

Fantasie ist ein Geschenk Gottes. Hätte er uns nicht so gemacht, wären wir fantasielos. (Christian Schmill)1

Aber ist es überhaupt richtig: beim Lesen der Bibel meine eigene Fantasie, meine Vorstellungskraft mit einzubringen? Besteht da nicht die Gefahr, dass ich etwas in die Schrift hineinlese, das da gar nicht enthalten ist?

Dürfen wir unsere Fantasie verwenden, um die Bedeutung eines Bibeltextes zu erschließen?

Ich frage mich, wie es eigentlich kommt, dass wir der Fantasie in Bezug auf das Bibellesen manchmal so skeptisch gegenüberstehen. Vielleicht deshalb, weil wir Erwachsenen die unvoreingenommene Beziehung zu unserer Fantasie oft verloren haben. Als Kinder hatten wir sie noch: wir waren neugierig, wollten alles wissen, konnten uns alles vorstellen, und es war leicht, uns in eine Fantasiewelt zurückzuziehen.

Aber je erwachsener wir wurden, desto “ernsthafter” wurden wir auch. Desto mehr zählten die Fakten. Und das ist ja auch nicht zu verurteilen: natürlich gibt es Gesetzlichkeiten, die ich mit meiner Fantasie nicht außer Kraft setzen kann. Wenn ich mir in lebhaften Bildern vorstelle, dass ich fliegen kann, und vom Hausdach springe, werden die naturwissenschaftlichen Fakten mich schnell auf dem Boden der Tatsachen aufprallen lassen. (Sorry: das Bild konnte ich ir nicht verkneifen.)

Auf der anderen Seite fordert Jesus seine erwachsenen Zuhörer auf, wie Kinder zu werden. Was meint er damit?

Was macht denn den Unterschied aus zwischen wissensdurstigen Erwachsenen und Kindern? Ein wesentlicher Unterschied ist ihre Einfachheit und Fantasie.

Der fantasievolle Jesus

Jesus hatte offensichtlich viel Freude an Fantasie. Und die hat er auch bei seinen Zuhörern vorausgesetzt. Er hat viel mit Beispielen gearbeitet, hat den Menschen Bilder vor Augen gemalt. So erzählte er: “Stellt euch einmal vor, da war ein Mann, der ging von Jerusalem nach Jericho hinab. Da wurde er von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.” (Lk. 10, 30)

Jesus malt farbige, starke Bilder. Jeder kann sich sofort etwas darunter vorstellen. Seine Vergleiche treffen direkt, sprechen sogar heute noch unsere Emotionen an, 2000 Jahre, nachdem Jesus seine Geschichten erzählte.

Aber dafür gibt es eine Voraussetzung: wir müssen unsere Fantasie einsetzen. Je konkreter unser Bild von dem zusammengeschlagenen Mann ist, und von dem Samaritaner, der sich um ihn kümmerte, desto mehr wird die Geschichte unsere Gefühle ansprechen.

Fakten-Aufnahme oder fantasievolles Miterleben?

Es geht bei Jesu Beispiel-Geschichten also um mehr als reine Fakten-Aufnahme. Um Jesus zu verstehen, reicht es nicht, seine Worte auf die Tatsachen hin abzuklopfen. “Aha: der Ausgangspunkt der Reise ist Jerusalem, das Ziel Jericho. Das sind x Kilometer. Der Mann wird dafür y Stunden benötigen, wenn er z Kilometer pro Stunde zurücklegt.”, usw. Auf diese Weise würde ich die Geschichte in viele Details zerlegen, zugleich aber ihre Aussagekraft zerstören.

Der Psychologe Ernst Pöppel beschreibt, was beim Lesen in uns geschieht, wenn wir uns allein auf die Fakten konzentrieren:

[…] hier geht es immer darum, Teilhabe am allgemeinen Wissen zu erzeugen; insofern ist dieses Wissen auch eher Ich-fern.2

Ich sammle also Ich-fernes Wissen, d.h. Fakten, die mit mir persönlich nicht viel zu tun haben. Aber so haben Jesu Zeitgenossen seine Geschichten ganz sicher nicht gehört.

Etwas ganz anderes geschieht, wenn wir beim Lesen unsere Fantasie einsetzen: Ich erzähle mir die Geschichte sozusagen selbst.

Hier wird eine innere Stimme genutzt, um ein bildliches Drama auf der Bühne des inneren Erlebens zu entwerfen. […] Jeder Leser entfaltet eine eigene Bildgeschichte, die mit ihm selber abgestimmt ist. Dieses Lesen ist mit Ich-Nähe der Identität des Lesers verpflichtet. Hier wird […] die Episode Teil des Lesers selbst.3

Das “bildliche Drama”, die “eigene Bildgeschichte” beschreibt Pöppel als “Ich-näher”; allgemeines Wissen dagegen ist “Ich-ferner”, es betrifft mich persönlich nicht so sehr.

Warum ist das so? Wenn wir unter Beteiligung unserer Fantasie eine Geschichte lesen, werden wir sozusagen in die Geschichte hineingezogen. Wir werden “Teil der in der Schilderung beschriebenen Gemeinschaft” (Shira Gabriel)4

Rose Turner (Kingston University London) beschreibt, was dabei geschieht: “Wenn wir lesen, gehen wir über das hinaus, was auf den Seiten steht. Wir müssen die Lücken füllen, wenn wir uns in die Geschichte begeben.”5 Dasaktiviert unsere Gefühle, “gibt uns die Möglichkeit, empathische Fähigkeiten zu entwickeln, wenn wir versuchen zu verstehen, was ein Charakter durchmacht.”6

Meine Fantasie muss nicht deiner entsprechen

In den beiden Zitaten von Pöppel wird noch etwas anderes sichtbar: wie individuell die Vorstellungen beim Lesen einer Geschichte sind. Er spricht davon, dass jeder Leser seine “eigene Bildergeschichte” entfaltet, die eng mit seiner Persönlichkeit, seiner “Identität” zusammenhängt.

Und spätestens hier können wir uns fragen: öffnet die Fantasie damit nicht jeder denkbaren Deutung die Tür? Kann ich nicht im Extremfall Jesus das Wort im Munde herumdrehen, wenn ich zu viel meiner eigenen Fantasie in das Verständnis einbringe? Kann ich nicht zu einer ganz anderen Deutung der Geschichte kommen als du, wenn ich beim Verständnis von mir ausgehe und du von dir?

Das glaube ich nicht. Jesu Geschichten sind nicht hoch kompliziert. In der Regel beschreibt er einfache Ereignisse. Aber er setzt bewusst auf die Erfahrungen und die Vorstellungskraft seiner Zuhörer. Auch zu seiner Zeit waren ihre Persönlichkeiten und die Lebenserfahrungen unterschiedlich, genauso wie heute. Und doch geht Jesus das Risiko ein, statt klarer, unmissverständlicher Merksätze lieber in Gleichnissen zu reden. Er erzählt bewusst Geschichten, die die Gefühlswelt seiner Zuhörer nicht kalt lassen.

Die biblische Geschichte mit meiner verbinden

Wenn wir das zulassen, dann verbindet sich die Geschichte mit unserer eigenen Erfahrungen, mit unserer Geschichte. Wenn ich mich in der Figur des frommen Mannes wiedererkenne, der an dem ausgeraubten Mann vorbeigeht und dabei wegschaut. Oder in dem zusammengeschlagenen Mann, hilflos am Rand der Landstraße. Oder in der Figur des Samariters, der ihn dort liegen sieht und einfach das Richtige tut. So entfaltet sich die Kraft der Geschichten Jesu.

Wenn wir uns auf die Bilder Jesu einlassen, indem wir unserer Fantasie erlauben, diese Bilder mit kräftigen Farben auszumalen, wenn wir uns im Innersten von ihnen berühren lassen - dann erst können wir seine Worte so verstehen, wie er sie verstanden haben will.



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Quellen:

Titelbild: Photo by Michael Dziedzic on Unsplash.

Fußnoten:
  1. Christian Schmill - Bibel. Jetzt. (4) – Fantasie. https://schmillblog.wordpress.com/2017/01/08/bibel-lesen-2-teil-fantasie-2/, 2017-01-08; abgerufen: 2020-10-06 

  2. Ernst Pöppel - Was geschieht beim Lesen? https://www.ernst-poeppel.com/opinions/lesen/; abgerufen: 2020-10-06 

  3. ebd. 

  4. Psylex, Stichwirt: “Lesepsychologie; Psychologie des Lesens”; abgerufen 2020-10-18 

  5. Psylex, Stichwort: “Empathie, Einfühlungsvermögen (Lesen)”; abgerufen 2020-10-18 

  6. ebd.