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Das Thema der Befreiung durchzieht das Alte und das Neue Testament, bestimmt maßgeblich den jüdischen wie den christlichen Glauben. Jeder fromme Jude lebt aus der Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. Jeder Christ lebt in dem Bewusstsein, dass Jesus Christus ihn aus der selbstgemachten Trennung von Gott und den damit verbundenen Unfreiheiten befreit hat.

Für beide: Juden wie Christen, soll sich befreites Leben allerdings nicht in Erinnerung, in Rückschau erschöpfen. Ja, das ist ein wichtiger Teil: die Erinnerung an die Befreiung aufrechtzuerhalten. Aber zu einem befreiten Leben gehört nicht der Stillstand. Wenn ich frei bin zu gehen, mich aber nicht von meinem angestammten Ort fortbewege, dann bringt mir meine ganze Freiheit nichts. Befreiung ist immer Befreiung zu etwas.

In diesem Artikel schauen wir uns die Erinnerungskultur der Juden an: wie kommt es, dass sie immer noch so stark verbunden sind mit Ereignissen, die tausende von Jahren zurückliegen? Wie kann es sein, dass sie immer noch Kraft geben, Hoffnung und Mut? Und was können wir von ihnen lernen? Im nächsten Artikel beschäftigen wir uns dann damit, welche praktischen Folgen die Erinnerung an die Befreiung im Alltag eines Juden hatte.

Die Geschichte einer Befreiung

Vor langer Zeit war Jakob, der Stammvater der Israeliten, mit seiner Familie nach Ägypten ausgewandert. Er floh vor einer Hungersnot in ein Land, in dem einer seiner Söhne eine wichtige politische Position innehatte. Dort entstand mit der Zeit aus seinen Nachfahren ein neues Volk: die Israeliten. Das Alte Testament erzählt, dass sie zunehmend mehr unterdrückt wurden. Zunächst wurden sie für Zwangsarbeiten herangezogen, und nach einigen Generationen waren sie vollkommen versklavt. Im Buch Exodus (2. Buch Mose) heißt es:

Die Israeliten stöhnten noch unter der Sklavenarbeit; sie klagten und ihr Hilferuf stieg aus ihrem Sklavendasein zu Gott empor. Gott hörte ihr Stöhnen und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Gott blickte auf die Israeliten. Gott hatte es wahrgenommen. (2.Mo. 2, 23-25; EÜ)

Und was machte Gott? Er bestimmte einen Mann namens Moses dazu, das Volk zu befreien. Mose war ein Israelit, der als Baby ausgesetzt, an den Königshof gekommen und dort aufgewachsen war. Und dieser Mann schaffte es: Er führte sein Volk in die Freiheit.

Die Erinnerung an die Befreiung

Die jüdische Religion geht auf diese traumatischen Erlebnisse des versklavten Volkes zurück. Man könnte sagen: Die Befreiung liegt in den Genen des Judentums.

Aber das ist nicht die einzige Befreiung, die das jüdische Volk erlebte. Immer wieder fand es sich in Situationen, in denen es in seiner Existenz bedroht war. Und immer wieder wurde es gerettet. Über das Jahr verteilt erinnern wichtige Feste an diese Zeiten der Befreiung. Und es ist erstaunlich: seit tausenden von Jahren feiern fromme Juden diese Ereignisse auch heute noch regelmäßig. Ohne Unterbrechung.

Einige der Feste im jüdischen “Kirchenjahr”, die an diese Befreiungserlebnisse erinnern:

Pessach

Die Juden erinnern sich an den Tag, als Gott sie durch Mose aus der Sklaverei in Ägypten befreite. Das Pessach-Fest wurde am Vorabend des Tages eingesetzt, an dem Israel das Land verließ (2. Mo. 12, 14-20). Dieses Ereignis sollte niemals in Vergessenheit geraten:

Haltet diesen Tag in allen kommenden Generationen! Es ist eine ewige Satzung. (2. Mo. 21, 17; EÜ)

Und tatsächlich feiern die Juden diese Befreiung schon seit tausenden von Jahren.

Pessach dauert sieben Tage. Die religiösen Vorschriften sind so streng, dass sie den Ausschluss aus der Volksgemeinschaft für jeden fordern, der das Pessach-Fest nicht feiert, obwohl er es könnte1 (4. Mo. 9,13): Wenn jemand bewusst die Erinnerung an dieses für sein Volk so grundlegende Ereignis nicht pflegt, sagt er sich damit von ihm los.

Nach neutestamentlicher Überlieferung wurde Jesus am Vorabend des Pessachfestes hingerichtet. Damit wird eine Verbindung hergestellt zwischen dem Lamm, das die israelitischen Familien vor dem Auszug aus Ägypten schlachteten2, und dem Tod Jesu.

Pessach wurde im Jahr 2020 vom 09. bis zum 16. April gefeiert.3

Sukkot: das Laubhüttenfest

Bei diesem Fest erinnern sich die Juden an die langen Jahre, in denen sie nach dem Auszug aus Ägypten durch die Wüste zogen, bevor sie sich im Gebiet des heutigen Israel niederließen.

Auch dieses Fest dauert sieben Tage. Viele fromme Juden bauen in dieser Zeit eine “Laubhütte”, die “Sukka”. Sie wird im Freien aus Ästen und Zweigen gebaut, z. B. im Garten, auf einem Parkplatz oder anderen freien Plätzen. In dieser provisorischen Unterkunft halten sich Juden zumindest zum Essen auf. Das “hält die Erinnerung an das Heilgeschehen lebendig und nimmt jede nachfolgende Generation in dieses Geschehen mit hinein”4. Sie können die Geschichte ihres Volkes sozusagen körperlich miterleben.

Das Laubhüttenfest findet 2020 vom 03. bis 10. Oktober statt.5

Purim

Das Purim-Fest geht auf eine Erzählung im alttestamentlichen Buch Ester zurück. Darin wird berichtet, dass der persische Beamte Haman einen Völkermord an den Juden in Persien plante. Das wurde von Ester durch Fasten und Gebet verhindert. Purim ist daher ein sehr fröhliches Fest.

Purim wurde 2020 am 10. März gefeiert.

Übrigens gibt es in Frankfurt ein ganz eigenes Purimfest: “Die Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main […] feiert seit 1616 alljährlich […] das Fest Purim Vintz (Purim Vincenz), das an die Niederschlagung des judenfeindlichen Fettmilch-Aufstands 1614 und an die feierliche Rückführung der zuvor vertriebenen Gemeinde in die Judengasse erinnert.”6

Chanukka

Dieses Fest erinnert an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem.

Auch hinter diesem Ereignis verbirgt sich die Geschichte einer Befreiung: Im 2. Jahrhundert vor Christus war Judäa von den Seleukiden besetzt, und im Tempel stand eine Statue des griechischen Gottes Zeus. Im Jahr 164 v.Chr. beendete der Makkabäer-Aufstand die Herrschaft des Seleukiden-Reiches, und der traditionelle Tempeldienst wurde wieder eingeführt.

Das Chanukka-Fest wird 2020 vom 10. bis 17. Dezember gefeiert.7

Die jüdischen Erinnerungskultur schafft Identität

Durch all diese Feste wird ein Jude regelmäßig daran erinnert: Egal, wie gefährlich und hoffnungslos eine Situation ist, Gott ist immer da. Er ist immer treu. Er ist der Befreier. Diese Feste werden heute noch genauso gefeiert wie zur Zeit Jesu. Ein frommer Jude wird auch heute noch regelmäßig daran erinnert, wie oft Gott sein Volk schon gerettet hat.

Von Cicero stammt der Ausspruch: “historia magistra vitae”, “Die Geschichte ist die Lehrerin des Lebens.” Durch das Erinnern an die Geschichte lernen wir für heute. Das gilt im ganz Kleinen: Wenn ich mich daran erinnere, dass ich mich gestern mit meinem neuen Küchenmesser geschnitten habe, gehe ich heute vorsichtiger damit um. Und es gilt im Großen: Das Bewusstsein der umfassenden Fürsorge Gottes kann mich ruhig machen in Situationen, in denen ich selbst nicht weiterkomme8. Erinnerung steht also “immer im Dienst der Gegenwart”9; sie ist kein Selbstzweck.

Und ein Zweites kommt dazu: sich zu Erinnern schafft Identität. Wenn ich mich mit einer Gruppe identifiziere, wenn ich ihre Geschichte, ihre Überzeugungen und Werte für mich annehme, dann entsteht in mir ein Bild davon, wer ich selber bin.10 Das beeinflusst meine Handlungen und Entscheidungen. Eine solche Identität muss gepflegt werden: Sie ist nicht unveränderlich, sondern abhängig davon, dass ich mich zu ihr bekenne.11

Ein Beispiel für den identitätsstiftenden Effekt der jüdischen Erinnerungskultur gab am 05.04.2020 der israelische Präsident Reuven Rivlin. In einer Ansprache zum Beginn des Pessach-Festes ging er auf die Corona-Pandemie ein. Er sagte: “Keine Plage der modernen Zeit kann die Kette zerbrechen, die bis zum Auszug aus Ägypten zurückreicht und unser Volk zusammenschweißt. Wir sind eine Familie, mit einer gemeinsamen Geschichte, gemeinsamen Werten und einem gemeinsamen Schicksal.”12



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Quellen:

Titelbild: [Arthur Szyk (1894-1951). The Haggadah, The Family at the Seder (1935), Łódź, Poland]. Wikimedia Commons.

Fußnoten:
  1. 4.Mo. 9,13 

  2. 1.Mo. 12, 3ff 

  3. Für weitere Informationen über das Pessach-Fest: [Wikipedia]. Eine deutsche Übersetzung von Pessach Gebeten auf [talmud.de]

  4. WiBiLex, Stichwort [“Laubhüttenfest (AT)”] 

  5. Wikipedia, Stichwort [“Sukkot”] 

  6. Wikipedia, Stichwort [“Purim”] 

  7. Wikipedia, Stichwort [“Chanukka”] 

  8. Ein Beispiel dafür ist der [Umgang von Asaf mit seiner Depression in Psalm 77] 

  9. [Aleida Assmann; in: Peter Hurrelbrink - Die Bedeutung der Erinnerung für die Demokratie], 2001-08. 

  10. [Identität] „baut sich im Einzelnen auf kraft seiner Teilnahme an den Interaktions- und Kommunikationsmustern der Gruppe, zu der er gehört, und kraft seiner Teilhabe an dem Selbstbild der Gruppe.“ (Jan Assmann; in: ebd.) 

  11. “Unter einer kollektiven oder „Wir-Identität“ ist das Bild zu verstehen, das eine Gruppe von sich selbst aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität konstituiert sich durch die Identifikation der am Kollektiv beteiligten Individuen mit den gemeinsam geteilten Vorstellungen über Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Es gibt sie also nie „an sich“ und unveränderlich, sondern immer nur in dem Maße und so lange, wie sich die Individuen zu ihr bekennen.” (Hurrelbrink, ebd.) 

  12. Israelnetz.com: Rivlin betont jüdischen Zusammenhalt in Geschichte und Gegenwart. https://www.israelnetz.com/gesellschaft-kultur/gesellschaft/2020/04/06/rivlin-betont-juedischen-zusammenhalt-in-geschichte-und-gegenwart/, 2020-04-06. Abgerufen 2020-09-22