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Caravaggio: Die Inspiration des Heiligen Matthäus

Die Bibel ist das zentrale Dokument der Christenheit. Unter allen anderen Schriften nimmt sie eine einzigartige Position ein. Wir sagen: sie ist inspiriert. Aber was bedeutet das konkret? In dieser Frage sind wir uns alles andere als einig.

Göttlich oder menschlich?

Manche sagen: die Bibel kommt zu 100% von Gott. Inspiration bedeutet dann für manche, dass Gott die Schrift Wort für Wort den Autoren diktiert hat. Mir fallen dabei immer diese mittelalterliche Malereien ein, wo der Heilige Geist in Form einer Taube neben dem Ohr des Schreibers schwebt. Oder, wie bei Caravaggio, ein Engel, der Bote Gottes, der genau aufzählt, was der Evangelist zu schreiben hat.

Andere betonen eher die menschlichen Anteile der Bibel, bis dahin, dass sie die Schrift als ein 100% menschliches Buch sehen, in dem die Autoren lediglich ihre eigenen Erfahrungen mit Gott beschreiben. Und tatsächlich sehen wir an vielen Stellen die menschliche Handschrift: dazu müssen wir nur den Schreibstil der verschiedenen Evangelien vergleichen, und wir erkennen die ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten der Autoren.

Jeder Christ befindet sich mit seiner Haltung zur Bibel irgendwo zwischen diesen beiden Extremen: zwischen 100% göttlich “diktiert” und 100% menschlich. Dabei ist unsere Überzeugung über die Entstehung der Bibel für unser geistliches Leben und den Umgang miteinander entscheidend wichtig. Nicht zuletzt durch Auseinandersetzungen über diese Frage kommt es unter Christen immer wieder zu Streit und Trennungen. Da gibt es die großen Lager der “Fundamentalisten” und der “Liberalen”, die sich vor allem durch ihr Schriftverständnis unterscheiden. Kommunikation gibt es wenig, eher gegenseitige Angriffe. In der Regel herrscht zwischen den Lagern zumeist Funkstille.

Zu verwundern ist das nicht. Schließlich geht es um viel. Wenn die Bibel das grundlegende Dokument unseres Glaubens ist, dann macht es eben durchaus einen Unterschied, ob ich der Schrift vollkommene Irrtumslosigkeit zuschreibe oder nicht. Das beeinflusst mein Weltbild, meine Haltung gegenüber der Wissenschaft, mein Gottesbild, mein Selbstverständnis – und damit formt diese Frage mein Leben, bis in Kleinigkeiten hinein. Ist die Bibel also ein Buch von Gott, oder ein menschliches Werk?

Christus und die Schrift: eine Analogie

Peter Enns, Professor of Biblical Studies, vertritt einen Ansatz, den ich als sehr heilsam empfinde. Für ihn geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern um Sowohl-als auch. In “Inspiration and Incarnation”1 schreibt er:

Wie Christus sowohl Gott als auch Mensch ist, so ist es auch mit der Bibel. Mit anderen Worten, wir sollen die Bibel analog dazu betrachten, wie Christen über Jesus denken. Christen bekennen, dass Jesus gleichzeitig Gott und Mensch ist. Er ist nicht halb Gott und halb Mensch. Er ist nicht manchmal das eine und ein anderes Mal das andere. Er ist nicht im Wesentlichen das eine und nur scheinbar das andere. Vielmehr ist eine der zentralen Lehren des christlichen Glaubens, die bereits im Jahre 451 n. Chr. im Konzil von Chalcedon ausgearbeitet wurde, dass Jesus zu 100 Prozent Gott und zu 100 Prozent Mensch ist – und das zur gleichen Zeit.2

Das Konzil wandte sich damit gegen den sogenannten Doketismus. “Der Ausdruck Doketismus (griechisch δοκεῖν dokein „scheinen“) bezeichnet die Lehre, Jesus Christus habe nur scheinbar einen physischen Körper gehabt und am Kreuz auch keine Leiden empfunden.”3

Enns fährt fort:

Diese Art des Denkens über Christus ist analog zum Denken über die Bibel. So wie Jesus Gott und Mensch zugleich ist, sein muss, ist auch die Bibel ein göttliches und menschliches Buch. Obwohl Jesus “Gott mit uns” war, nahm er die kulturellen Merkmale der Welt, in der er lebte, dennoch vollständig an.4

Ausgehend von der Inkarnation (d.h. Fleischwerdung) Christi bezeichnet Enns seinen Ansatz als “Inkarnationsanalogie”:

Diese Art des Denkens über die Bibel wird von verschiedenen Theologen unterschiedlich bezeichnet. Der Begriff, den ich bevorzuge, ist die Inkarnationsanalogie: Die Inkarnation Christi ist analog zur “Inkarnation” der Schrift. […] Mein Ausgangspunkt ist das orthodoxe christliche Bekenntnis, so geheimnisvoll es auch sein mag, dass Jesus von Nazareth der Gott-Mensch ist. Die traditionelle Identifikation zwischen Christus dem Wort und dem Wort der Schrift ist entscheidend dafür, wie ich die […] Themen angehe: Wie wirkt sich die volle Menschlichkeit und volle Göttlichkeit der Schrift auf das aus, was wir von der Schrift erwarten können?5

Damit lässt Enns die Ebene des Streits hinter sich, ob eine Aussage oder eine Geschichte mehr göttliche oder mehr menschliche Anteile hat. Für mich gibt er damit der Schrift eine Würde zurück, die sie im kleinlichen Streit zwangsläufig verliert. Ganz gleich, auf welcher “Seite” ich stehe.

Was einige antike Christen in der doketistischen Irrlehre über Christus gesagt haben, ähnelt dem Fehler, den andere Christen mit die Schrift gemacht haben (und weiterhin machen): Sie kommt von Gott, und die Spuren ihrer Menschlichkeit sind nur da, um wegerklärt zu werden.6

“Bibel-Doketismus”

Enns nennt dies “Bibel-Doketismus”.

Aber die menschlichen Spuren der Bibel sind überall, sorgfältig in die Natur der Schrift selbst integriert. Diese Spuren zu ignorieren oder zu wegzuerklären, kostet mindestens so viel Energie wie ihnen zuzuhören und von ihnen zu lernen. […]

[Die Bibel] gehörte zu den alten Welten, die sie hervorbrachte. Es war kein abstraktes, außerweltliches Buch, das aus dem Himmel fiel. Es war mit diesen alten Kulturen verbunden und sprach sie an. Die kulturellen Qualitäten der Bibel sind daher keine zusätzlichen Elemente, die wir weglassen können, um zum eigentlichen Punkt, den zeitlosen Wahrheiten, zu gelangen.

Gerade weil das Christentum eine historische Religion ist, spiegelt Gottes Wort die verschiedenen historischen Momente wider, in denen die Schrift geschrieben wurde. Gott handelte und sprach in der Geschichte. Wenn wir mehr und mehr über diese Geschichte erfahren, müssen wir uns auch gerne mit den Auswirkungen dieser Geschichte auf unser Bild der Bibel befassen, d.h. mit dem, was wir von ihr erwarten können.7

Natürlich ist es einfacher, die eine oder die andere Extremposition einzunehmen, und damit die Augen vor den damit jeweils entstehenden Problemen zu schließen. Sicherer fühlt es sich allemal an – aber wer sagt denn, dass Glauben etwas mit Sicherheit zu tun hat? Anspruchsvoller und der Natur der Bibel mehr entsprechend ist es meiner Meinung nach, sie als ein einmaliges Werk anzunehmen, göttlich inspiriert, zugleich aber menschlich. Und damit brauchen mich menschliche Missverständnisse und Irrtümer nicht zu irritieren, die ich in ihr finde.



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Quellen:

Titelbild: commons.wikimedia.org. This work is in the public domain. Abgerufen: 2019-04-21

  1. Enns 2015 Enns, Peter: Inspiration and Incarnation: Evangelicals and the Problem of the Old Testament (Second Edition). Grand Rapids, Michigan: Baker Academic, an imprint of Baker Publishing Group. 2015. Ich zitiere aus der eBook-Ausgabe. ASIN: B00XNJGOWS. 

  2. Enns 2015, Kapitel 1 

  3. deacademic.com; abgerufen: 2019-04-24 

  4. Enns 2015, Kapitel 1 

  5. ebd. 

  6. ebd. 

  7. ebd.