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Depressionen - gestern und heute

3000 Jahre alt ist ein Gedicht, das uns im Alten Testament überliefert ist. Es wird einem gewissen Asaf zugeschrieben. Der Dichter beschreibt eindrucksvoll seine Erfahrungen mit Depression, und wie er damit umgeht. Und damit zeigt er uns nach einen Weg, der heute noch genauso hilfreich sein kann wie zu seiner Zeit.

Depressionen heute und Depressionen vor 3000 Jahren unterscheiden sich nicht. Heute gehören sie zu den häufigsten Krankheiten in Deutschland. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe sagt:

17,1 % der erwachsenen Deutschen (18 – 65 Jahre) [sind] mindestens einmal an einer […] depressiven Störung erkrankt, das ist ca. jeder fünfte Bürger.1

Kinder und ältere Menschen sind in dieser Statistik nicht berücksichtigt.

Untersuchungen haben ergeben, dass während der Corona-Zeit diese Erkrankungen nochmals zugenommen haben.

Während der coronabedingten Einschränkungen hat sich die Belastung mit schweren depressiven Symptomen in der Bevölkerung nach ersten Ergebnissen einer Online-Befragung merklich verstärkt.

Vor allem für die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen sei ein Anstieg im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie zu beobachten, sagt Dr. Youssef Shiban, Professor für Klinische Psychologie an der Privaten Hochschule Göttingen (PFH).2

Laut einer Studie, die u.a. von der Göttinger Hochschule betreut wurde, gab es unter den Befragten fünfmal mehr depressive Symptome.3

Asaf in der Abwärtsspirale

Also lass uns einmal 3000 Jahre zurückgehen. In Israel lebte ein Mann namens Asaf. Er arbeitete als Vorsänger am Heiligtum.4

Die Ausgangssituation in unserem Gedicht: Asaf ist zutiefst verzweifelt. Worum es dabei geht, wissen wir nicht. Er schildert seine Depression, sein Grübeln, seine Schlaflosigkeit. Er betet und betet, und nichts passiert. Und er sagt: “Während ich über alles nachgrüble, verlässt mich der Mut.”5

Das hat wahrscheinlich jeder schon einmal erlebt: Wie leicht es ist, in eine Abwärtsspirale zu kommen. Deine Gedanken ziehen sich wie ein Strudel immer weiter nach unten. Dein Denken dreht sich im Kreis. Alles wird immer hoffnungsloser und dunkler. Du bist vollkommen blockiert. Kein Ausweg ist sichtbar. Du siehst nur noch das Problem, deine Not. Du versuchst, eine Lösung zu finden, aber deine Gedanken sind wie gelähmt.

Ich kenne das und weiss, wie so etwas ist. Es ist furchtbar.

Während ich nachgrüble, verlässt mich der Mut

Was Asaf hier beschreibt, deckt sich mit unseren Erfahrungen. Matthias Berking, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, beschreibt diese Abwärts-Spirale in einem Artikel, in dem er sich auf die Corona-Pandemie bezieht:

Wir fragen uns, wie gefährlich die Situation wirklich ist. Wir versuchen, die Faktoren zu verstehen, welche die Situation beeinflussen. Wir versuchen, eine Prognose zu stellen, wie sich die Situation weiterentwickelt. All dies sind sehr sinnvolle Anpassungsreaktionen. Wenn man aber von diesen Gedanken nicht auch mal eine Pause machen kann, besteht die Gefahr, dass wir uns im ständigen Grübeln und in andauernden Sorgen verlieren.6

Oder wie die Deutsche Depressionshilfe es ausdrückt:

In einer Depression wird alles Negative im Leben vergrößert wahrgenommen und ins Zentrum gerückt.7

Asafs Heilmittel

Wie geht es mit Asaf weiter? Nachdem er 11 Verse lang diese Situation beschrieben hat, passiert etwas. Es ist, als würde ein Schalter umgelegt. Und das bringt für ihn die Wendung.

Doch ich will mir die Taten des Herrn in Erinnerung rufen. Ja, ich will an deine Wunder aus längst vergangener Zeit denken. (Ps. 77, 12; NGÜ)

An dem Punkt, wo er ganz unten ist, wo er mit seinem Grübeln nicht mehr weiterkommt, da kommt auf einmal das “Doch ich will”: die Erinnerung an die Erfahrungen, die Israel in der Vergangenheit mit Gott gemacht hat. Asaf ändert seine Blickrichtung.

Ich sinne über all dein Wirken nach, dein Handeln erfüllt meine Gedanken. (Ps. 77, 13; NGÜ)

Asaf schreibt hier nicht: “Ich weiss, dass du uns damals geholfen hast”. Das ist relativ passiv, und würde ihm nicht helfen. Stattdessen sagt er: “Ich sinne nach über dein Wirken”. Nachsinnen - das ist nicht ein kurzes Denken an etwas. Nachsinnen heisst, dass etwas deine Gedanken wirklich in Beschlag nimmt.

Wie schafft er es, die Fixierung auf seine Notsituation loszulassen, das Grübeln, das ihn immer tiefer nach unten gezogen hat? Indem er sich bewusst auf etwas anderes konzentriert. Indem er bewusst die Perspektive ändert. Indem er immer wieder das durchdenkt, was Gott in der Vergangenheit getan hat.

Ist ihm das leichtgefallen? Darüber sagt er nichts. Aber zumindest nach meiner Erfahrung ist es manchmal alles andere als leicht, dem Sog nach unten etwas entgegenzustellen. Und das ändert seine Perspektive. Es ist fast wie bei einem Ertrinkenden, der auf einmal aufschaut und direkt vor sich das Rettungsboot sieht. Asaf sagt weiter:

Gott, heilig ist alles, was du tust. Wer sonst ist ein so großer Gott wie du? Du bist der Gott, der Wunder vollbringt! (Ps. 77, 14-15a; NGÜ)

Spürst du das? Hier ist auf einmal eine ganz andere Energie. Das sinnlose Kreisen der Gedanken wird ersetzt durch das Nachdenken darüber, wie Gott ist. Die verkrampfte Seele wird weit.

Aber Asaf bleibt nicht beim Allgemeinen. Er nimmt sich eine ganz konkrete Situation vor. Er wählt die Geschichte, wo Gott sein Volk nach dem Auszug aus Ägypten durch das Meer geführt hat. Er geht sie Schritt für Schritt durch, malt sie sich in leuchtenden Farben vor Augen. Und wie er sie beschreibt:

Den Völkern hast du deine Macht gezeigt. Dein Volk hast du mit starker Hand erlöst, die Nachkommen Jakobs und Josefs. Die Wasser des Meeres sahen dich, Gott; die Wassermassen sahen dich und kamen in Bewegung. Auch die Meerestiefen erbebten. Die Wolken gossen Regenfluten aus, sie ließen Donnerschläge hören, und wie Brandpfeile schossen Blitze hin und her. Laut erschallte dein Donner im Wirbelwind, Blitze erleuchteten den Erdkreis, die Erde zitterte und bebte. Dein Weg führte mitten durch das Meer, deine Pfade verliefen durch die Wassermassen. (Ps. 77, 15b-20a; NGÜ)

Wow! So viele emotional aufgeladene Bilder. Der Psalmist stellt es sich ganz bildlich vor, wie es damals war. Schmückt die Geschichte aus mit vielen kraftvollen Details. Tosendes Wasser, Blitze und Donner, Wirbelwind, Erdbeben. Nichts lässt er aus.

Aber woher weiss er, wie das genau war? Woher hat er diese Informationen? Sicher kannte er die Geschichte aus der Überlieferung. Aber wie kommt Asaf zu diesen vielen Details?

Ich glaube, das ist ganz normal, wenn wir uns an etwas erinnern. Egal ob wir das selbst erlebt oder darüber gehört haben. Wir stellen uns eine Situation vor, und unsere Erinnerung ist niemals zu 100% genau. Die Lücken füllen wir mit unserer Vorstellung. Jedem von uns geht das so.

Wichtig ist das, was hier in Asaf passiert. Er denkt an das, was Gott getan hat. Stellt es sich bildlich vor. Er ist sozusagen in der Situation drin. Er erlebt mit, wie Gott seine Vorfahren rettet. Er spürt das Gewaltige, das hier geschieht, sozusagen am eigenen Körper.

Und dann sagt Asaf:

Dein Weg führte mitten durch das Meer, deine Pfade verliefen durch die Wassermassen. Doch Fußspuren von dir sah man nicht. (Ps. 77, 20; NGÜ)

Damals, so erinnert er sich, hat Gott so unübersehbar gehandelt. Aber er selbst war nicht sichtbar. All diese gewaltigen Bilder, die Asaf sich vorstellte, können durchaus Angst machen. Aber mitten in diesen tosenden Wassermassen, im Sturm, im Erdbeben handelte Gott. Obwohl von ihm nichts zu sehen war. Nicht mal eine Fußspur.

Asaf ist aus seinem Grübeln wieder aufgetaucht. Sein Denken ist nicht mehr gefangen. Ja: seine verzweifelte Situation hat sich dadurch noch nicht geändert. Aber er kann sie jetzt aus einer ganz anderen Perspektive anschauen.

Und Asaf fragt sich: könnte es sein, dass Gott jetzt auch bei ihm schon mitten in dem emotionalen Durcheinander an der Lösung, an der Befreiung arbeitet? Ohne, dass auch nur eine konkrete Spur von ihm zu sehen wäre?

Mit dieser neuen Perspektive kann Asaf wieder Hoffnung für seine Notlage fassen. Kann wieder neu denken, eine Lösung finden.

Hilft das wirklich?

Ja, davon bin ich fest überzeugt. Weil ich das selbst immer wieder erlebt habe, wie die Änderung meiner Perspektive ganz neues Denken ermöglicht.

So kann die Erinnerung an Gottes Fürsorge in der Vergangenheit auch dir heute helfen. Du kannst deine aktuelle Situation aus einer anderen Perspektive sehen. Sie sozusagen von oben anschauen.

Bei all dem ist mir wichtig: es geht hier nicht darum, dass du die Augen verschliesst vor den Situationen in deinem Leben, die du anpacken musst.

Aber wenn du einmal so sehr im Grübeln gefangen bist, dass du den nächsten Schritt einfach nicht mehr siehst: dann kann ein Nachdenken, ein “Nachsinnen” über eine Situation, in der Gott geholfen hat, dich vielleicht auch wieder frei machen.

Woran kannst du dich erinnern, wenn es dir so geht wie Asaf? Einige Beispiele:

  • Du kannst dir eine biblische Geschichte durchlesen, in der Gott als Befreier beschrieben wird. Dich so wie Asaf wirklich hineinversetzen. Deine Gedanken damit ausfüllen, bis diese Hoffnung auftaucht, dass Gott auch dein Befreier ist.
  • Das selbe kannst du auch mit Berichten von anderen Menschen machen. Es gibt unendlich viele Bücher, in denen Leute berichten, wie Gott sie frei gemacht hat.
  • Oder vielleicht fällt dir auch eine Situation ein, in der Gott in deinem eigenen Leben schon gewirkt hat. Versetze dich zurück, durchlebe es noch einmal, und schaue Gott zu, was er damals getan hat.

Und wenn es doch nicht hilft?

Was, wenn die Abwärtsspirale zu stark ist? Wenn der Sog dich nicht mehr loslässt? Dann hab keine Scheu, von anderen Hilfe anzunehmen. Gott wirkt manchmal durch Wunder, aber selbst die vollbringt er meistens durch andere Menschen. Eine Depression kann eine echte Krankheit sein, und es gibt Menschen, die dafür ausgebildet sind, dir zu helfen. Wenn du es selbst nicht schaffst, dann lass Gott dir doch durch einen guten Therapeuten helfen. Eine erste Anlaufstelle könnte [C-Stab] sein.

Aber welchen Weg du auch immer gehst, du darfst sicher sein, dass Gott immer noch in diesem Business ist: dich frei zu machen.



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Quellen:

Titelbild: Abbildung eines blinden Musikers, aus der Grabkammer des Nakht. Ägypten, ca. 1416 v.Chr. [Wikimedia.org], Public domain.

Fußnoten: